29. Februar 2020, Nachmittag und Abend: Müterśpröhtag in Wilamowice

Gegen 15:30 war ich wieder in Wilamowice und habe mich noch einmal ausgeruht, bevor ich zum Müterśpröhtag aufbrach, der um 17:00 beginnen sollte. Als ich kam, war der Saal noch ziemlich leer, aber er füllte sich schnell, vor allem mit Einheimischen. Aber es waren auch einige auswärtige Gäste da, die ich aus früheren Jahren kenne, so mehrere Schlesier und ein Pole aus St. Petersburg, den ich vor zwei Jahren kennengelernt habe. Er ist ein Sprachgenie, spricht u.a. sehr gut Wymysiöeryś und Schlesisch, z.Z. beschäftigt er sich aber vor allem mit dem Masurischen. Er berichtete mir u.a., dass er demnächst nach Deutschland fährt, um dort greise Masurinnen und Masuren aufzuzeichnen, die vor langer Zeit aus Polen emigriert sind.

Die Veranstaltung wurde von Tymoteusz Król, den Spiritus Rector aller Aktivitäten zum Wymysiöeryś, eröffnet. Wie immer bei öffentlichen Auftritten sprach er in beiden Sprachen, begrüßte die Anwesenden und stellte das Programm vor. Er nutzte die Gelegenheit, vor einer großen Gruppe von Einwohnern der Stadt zu sprechen, um zwei wichtige Anliegen vorzustellen. Dabei ging es zunächst um die Pläne für ein Museum der Stadt Wilamowice und ihrer Kultur, die sich nach vielen Diskussionen nun endlich der Realisierung nähern, dazu lagen auf einem Tisch Dokumente aus, die man einsehen konnte. Als zweites sprach er von dem Projekt eines Denkmals für die Toten der beiden Weltkriege und der Verfolgung vor und nach 1945. Mit diesem Denkmal soll der Toten aller Seiten gedacht werden, deren Namen allerdings noch gesammelt werden. Dazu hat das Pfarramt eine Liste mit etwa 200 Namen erstellt, die man nach dem Sonntagsgottesdienst für eine kleine Gebühr erwerben kann. Und die Anwesenden wurden gebeten, eine solche Liste zu erwerben, durchzusehen und eventuelle Korrekturen und Ergänzungen zu melden.

 

 

 

 

Der erste längere Programmpunkt war eine Podiumsdiskussion zum Thema „Sprache, Kultur, Identität“ („Język, kultura, tożsamość“). Unter Leitung des Warschauer Slavisten Maciej Mętrak diskutierten drei Professorinnen, nämlich die Warschauer Ethnologin Justyna Olko, die Krakauer Slavistin und Literaturwissenschaftlerin Helena/Olena Duć-Fajfer und die Krakauer Soziologin Ewa Michna, und Marek Szolc, Jurist und Mitglied des Stadtrats von Warschau. Die Diskussion verlief auf einem hohen Niveau und konzentrierte sich auf die Frage, was eine Minderheit ist und welche Rechte sie haben sollte. Dabei wurden soziologische und juristische Definitionen gegenübergestellt, und es ging bei weitem nicht nur um sprachliche und kulturelle Minderheiten. So wurde auch darauf hingewiesen, dass die Frauen eine Minderheit in der Gesellschaft sind, und Marek Szolc sprach mit viel Nachdruck über die Rechte der LGBT-Minderheit, was in der polnischen Provinz und zu Zeiten, wo sich Gemeinden und größere Einheiten als „LGBT-freie Zonen“ definieren (übrigens auch in der Gegend von Wilamowice), sehr beeindruckend wirkte. Erst im Lauf der Diskussion wurde mir klar, dass mit Olena Duć-Fajfer auch die Vertreterin einer sprachlichen Minderheit auf dem Podium saß (sie ist Lemkin) – das wussten vermutlich die meisten außer mir von Anfang an. Und auch Ewa Michna ist in der Forschung auf die Lemken spezialisiert. Leider kann ich nicht über alle Facetten der Diskussion berichten, sie dauerte sehr lang und ich habe vermutlich auch nicht alles verstanden.

Nach der Podiumsdiskussion stellte sich eine Gruppe von Jugendlichen aus Wilamowice vor, die mit Stipendien des Warschauer Kollegs „Artes Liberales“ kleine Projekte durchgeführt haben – so wurden z.B. die ersten Comics auf Wymysiöeryś verfasst. Danach sang die zehnjährige Tochter von Justyna Olko ein Lied auf Wymysiöeryś, und nach einer kurzen Pause trat die Gesangs- und Tanzgruppe „Wilamowice“ auf, mit einem Programm namens „Hochzeit“ (Fröed bzw. Wesele). Das war ein buntes Gemisch aus dem Nachspielen des traditionellen Hochzeitsrituals (die Rolle des Bräutigams spielte übrigens Tiöma), Liedern und Tänzen, teils auf Wymysiöeryś, teils auf Polnisch, und das Publikum war begeistert. Ich sah unter anderem, dass ein neben mir sitzender sehr alter Mann teilweise die Lieder mitsang.

 

 

 

 

 

 

 

 

Nach diesem Programm wurde als nächstes das Buch Der Kliny Fjyśt, eine Übersetzung des „Kleinen Prinzen“ ins Wymysiöeryś. Die Übersetzung ist gerade erschienen und stammt (was wohl niemanden wundert) von Tymoteusz Król, zusammen mit Joanna Maryniak. Das Buch wurde kostenlos bzw. gegen Spende abgegeben, ich habe mir natürlich gleich mehrere Exemplare mitgenommen… Anschließend wurde Der Kliny Fjyśt auch aufgeführt, von der Theatergruppe Ufa fisa, und selbstverständlich auf Wymysiöeryś (mit polnischen Untertiteln). Ich konnte hier nur schwer folgen, weil ich – das gestehe ich offen – den „Kleinen Prinzen“ nie gelesen habe, weder auf Französisch noch auf Deutsch und schon gar nicht auf Wymysiöeryś.

 

 

 

 

Der Abend endete mit einem Konzert der lemkischen Folk-Gruppe Н’ЛЕМ folk! (NICHT NUR Folk). Drei junge Frauen und drei junge Männer traten mit traditionellen Instrumenten auf, eine der Frauen sang auf Lemkisch (was ich übrigens erstaunlich gut verstehe) und führte auf Polnisch durch das Programm. Auch dieser Teil der Veranstaltung dauerte ziemlich lange und endete erst kurz vor 21 Uhr (natürlich mit Zugabe).

 

 

 

 

Es folgte noch für einen Teil der Gäste ein gemeinsames Abendessen in der einzigen Gaststätte von Wilamowice, der „Restauracja Rogowa“ (wörtlich Restaurant an der Ecke). Hier gab es sogar vegetarisches Essen (das war vorher abgefragt worden), und ich lernte dort eine Slovakin, die in Brünn Niederlandistik studiert und ihre Abschlussarbeit über das Wymysiöeryś schreibt – sie war dann am nächsten Tag so freundlich, mich auf dem Hauptplatz von Wilamowice zu fotografieren, sodass ich meiner Fangemeinde bei Facebook und Instagram endlich mal wieder ein Bild bieten konnte.

Der Abend klang in der „Willa Leśna“ in fröhlicher Runde bei Weiß- und Rotwein aus. Da bin ich zum zweiten Mal in Folge meiner Absicht, keinen Alkohol mehr zu trinken, untreu geworden, bin aber bald, sprich gegen 23 Uhr, ins Bett gegangen.

2 Kommentare

  • Vielen Dank für diese spannende Schilderung mit all den Eindrücken, Beobachtungen und Bildern. Wie Du das geschafft hast, den Kleinen Prinzen bislang nicht lesen gemusst zu haben, ist mir zwar ein Rätsel, aber dies zeigt nur, dass man auch sehr gut ohne diese Lektüre reüssiert und trotzdem ein netter Mensch sein kann.

  • Dass ich den Kleinen Prinzen nicht gelesen habe, liegt schlicht an meinem Lebensalter. Als das Buch in Deutschland populär wurde, war ich schon aus dem entsprechenden Alter heraus. Und später hat es sich einfach nicht ergeben…

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