6. August 2015: Ein Tag in der Grafschaft Glatz

Der gestrige Tag begann mit einer interessanten Begegnung beim Frühstück im Hotel. Zwei Damen am Nebentisch kommentierten die Tatsache, dass zwei Herren an einem weiteren Nebentisch schon zum Frühstück Bier konsumierten, auf Deutsch. Nach kurzem Zögern habe ich mich getraut, sie anzusprechen, und sieh da, die ältere Dame stammte tatsächlich aus Glatz, wo sie die ersten zehn Jahre ihres Lebens verbracht hat. Wir haben uns dann länger unterhalten und sie berichtete, dass sie die Umgebung von Glatz erst jetzt kennengelernt hat, weil man im Krieg keine großen Ausflüge macht. Und Glatz sei ja fast unverändert, bis auf die neue Umgehungsstraße. Ansonsten wirkte sie sehr abgeklärt, kein böses Wort über die Polen fiel, und das deutsche Glatz ist für sie Vergangenheit, an die sie sich zwar gerne erinnert, die aber die jüngere Generation ohnehin nicht mehr interessiere.

Das Niederschlesische Jerusalem
Staubsaugerrituale in der Kirche

Nach dem Frühstück bin ich dann nach Albersdorf/Wambierzyce aufgebrochen, ins „Niederschlesische Jerusalem“. Diese wunderschöne Barockkirche besuche ich jedes Mal wieder gerne. Und auch als ich im Autoradio auf dem Weg feststellte, dass gerade der neue polnische Präsident seine Antrittsrede hielt, ließ ich mich nicht verleiten, dieser den Vorzug zu geben. Schon die wenigen Sätze, die ich hörte, zeigten jedenfalls sehr deutlich, dass hier wirklich ein Krakauer Präsident geworden ist. Denn er spricht die auslautenden Nasalvokale fast wie Verbindungen von Vokal und m, sagt also wirklich fast wierzem für wierzę u.a.m. – Albersdorf war dann schön wie immer, auch wenn der Eindruck ein bisschen dadurch getrübt wurde, dass die Kirche gerade geputzt wurde, mit Staubsauger und einem kleinen Jungen, der mit einem Staubtuch wedelte. Statt betender Gläubiger traf ich nur Tourist/innen, die mit Handys fotografierten und filmten. Wie sich zeigte, waren nur Deutsche in der Kirche. Und auch vor der Kirche und im Devotionalienladen waren keine Polen, sondern nur Mitglieder einer tschechischen Reisegruppe. Da habe ich dann auch verstanden, warum die „Bar Nad Potokiem“ erst um 12 Uhr öffnet… Das ist offenbar kein Wallfahrtsort für Frühaufsteher…

Von Albersdorf bin ich ins Gebirge gefahren, genauer gesagt ins Heuscheuergebirge (Góry Stołowe). Diese Lücke in meiner Kenntnis der Grafschaft Glatz hätte ich schon längst beseitigen müssen, und jetzt war es endlich so weit. Ich bin mit dem Auto bis Karlsdorf/Karłów gefahren, habe dort auf einem bewachten Parkplatz geparkt und wollte mich für die Besteigung der Großen Heuscheuer (Szczeliniec Wielki, tschechisch Velká Hejšovina) zünftig herrichten. Und musste feststellen, dass ich die eigens für solche Zwecke erworbenen Bergschuhe in Tübingen vergessen habe. So bin ich dann doch mit Sandalen auf den Berg gestiegen, was gar nicht so aufregend war, denn es begegneten mir öfter Leute mit Sandalen.

Kurz nach des Teufels Küche

Unter dieser Bergtour sollten die Leserin und der Leser sich nichts zu Aufregendes vorstellen. Als ich nach meinem Beinbruch erklärte, ich würde nach der Genesung wieder mehr wandern als in den letzten Jahren und auch auf Berge steigen, wurde mir der Rat gegeben, ich solle das auf keinen Fall mehr allein tun. Dem Rat bin ich nicht gefolgt, aber auf der Großen Heuscheuer braucht man da keine Befürchtungen haben. Man ist nirgends allein, denn von unten bis oben und insbesondere im eigentlichen Felsgebiet, das abgegrenzt ist und wo man Eintritt bezahlen muss, befindet man sich in der Begleitung von polnischen Klein- und Großfamilien. Und man hat pausenlos kostenlosen Sprachunterricht, insbesondere zur Einübung des Vokativs, dessen Rückgang man gleichzeitig auch beobachten kann. So rufen manche Kinder tatu oder tatusiu, aber alle mama, und Vokative gibt es nur noch von Diminutiva. Nebenbei konnte ich auch studieren, wie man seine Kinder heutzutage in Polen schon nennen kann, so gab es einen Kasper, einen Angelo (konsequent auf der vorletzten Silbe betont, also eigentlich

Gedenktafeln zur Erinnerung an Goethe
und Quincy Adams

Andżelo), eine Madeleine und einen Maks, mit dem wunderschönen Vokativ Maksiu. Aber ich durfte auch einen Ehepaar zuhören, das beim Aufstieg per Handy der Mutter bzw. Schwiegermutter die Bedienung des Videogeräts erklärte, erst die Frau, dann der Mann. Ich war übrigens weit und breit der einzige Ausländer, bis auf ein amerikanisches Pärchen. Und am Fuß des Berges saß ein weiteres Pärchen und sang tschechische Lieder, worauf ich, boshaft wie ich bin, mit einer Spende in tschechischen Kronen reagiert habe. Auf dem Rückweg habe ich sie noch einmal getroffen und sie redeten untereinander Polnisch… Und auf dem Parkplatz bin ich bei der Abfahrt auch noch Deutschen begegnet, die sich gerade für den Aufstieg vorbereiteten.

Aber abgesehen von dem, was einen Linguisten interessiert, ist die Große Heuscheuer auch ein faszinierender Berg. Sie steht wie ein Klotz in der Landschaft, ist unten bewaldet und hat oben ein Hochplateau mit Felsformationen, die natürlich alle schöne Namen haben. Am besten fand ich es in des Teufels Küche! Es gibt Treppen, die alle gut begehbar sind (auch mit Sandalen!), manchmal muss man auch ein bisschen springen. Und es gibt viele enge Durchgänge, bei denen ich mich frage, wie das eigentlich Menschen bewältigen, die einen größeren Körperumfang als ich haben. Aber die waren wohlweislich gar nicht hinaufgestiegen. Die Große Heuscheuer ist auch interessant als der Ort, an dem der Alpinismus in Preußen begonnen hat. Der erste Bergführer Franz Pabel (1773-1861) hat 71 Jahre lang Leute durch das Massiv geführt, darunter auch Goethe, den König von Preußen samt Hofstaat und den späteren amerikanischen Präsidenten Quincy Adams. Die Gedenktafeln für Goethe und Quincy Adams sind noch da, und für Herrn Pabel gibt es jetzt auch eine. Aber der König wird konsequent verschwiegen. Die Hütte auf der Großen Heuscheuer ist übrigens von 1845 und damit eine der ältesten im Lande.

Nach dem Abstieg habe ich in einer Gaststätte am Fuß des Berges gegessen. Dass Essen war gut, aber statt alkoholfreiem Bier hat man mir ein Gesöff namens „Karmi“ angeboten, da ist eine Art alkoholfreies Bier mit Karamelgeschmack. Die Kellnerin meinte noch, sie hätten es nicht gekühlt, diese Warnung habe ich leider auch missachtet. Und dann bin ich in mein Hotel zurückgefahren, um mich erstmal zu erholen.

Folklore-Festival in Glatz

Abends war ich noch in Glatz, wo ich eigentlich das nette Café am Rathaus genießen wollte. Aber auch Glatz ist nicht mehr, was es war, der Rathausplatz war mit Bänken und einer Bühne vollgestellt, und es fand ein Folklore-Festival statt. Ich habe einen Moment lang zugehört, dann aber irritiert den Platz des Geschehens verlassen, als ich merkte, dass die drei geschmückten jungen Damen auf dem Podium offenbar auf Serbisch sangen (ich habe jedenfalls das Wort devojke erkannt). So fordert die Globalisierung ihren Tribut, selbst in Glatz. Ich habe trotzdem das Café aufgesucht, einen Eiskaffee getrunken und begonnen, Klausuren zur Sprachgeschichte zu korrigieren. Und das war keine schlechte Idee, denn in der ruhigen Atmosphäre habe ich auch solche Fehler gelassen zur Kenntnis genommen, die mich sonst in den Wahnsinn treiben, etwa wenn jemand das Wort Кꙑевѣ mit K“ievě transliteriert.

Aber ich erspare den geneigten Leserinnen und Lesern weitere Ausflüge in mein Berufsleben und schließe den Bericht über gestern ab. Heute geht es weiter nach Osten, vielleicht sogar schon in die Gegend südlich von Krakau.

1 Kommentar

  • Schöne Erinnerungen ruft dieser Bericht wach. Vielen Dank, lieber Tilman. Wir verbrachten ja zwei Sommerurlaube direkt bei der Staatsgrenze in Machovská Lhota (Lhota Mölten), also praktisch am Fuß der Großen und Kleinen Heuscheuer. Den eigentlichen Ort an der Grenze gibt es ja heute in dieser Form nicht mehr, da sind nur mehr Ferienhäuser, direkt bei der Nationalpark- und Staatsgrenze stehen auf tschechischer Seite ein paar Müllrecyclingcontainer und ein Wartehäuschen mit der Aufschrift Nouzín, drüben heißt der Ort heute Ostra Góra, auf Deutsch war das Nauseney. Von da sind wir natürlich einige Runden durch die Tafelberge zwischen Pasterka (Pasterkov, Passendorf) und Karłów (Karlov, Karlsberg) gewandert, nicht nur auf beide Heuscheuergipfel, auch durch die Wilden Löcher (Błędne Skały, Bludné skály) usw. Wir waren also auch so eine typische Familie mit damals noch bloß zwei Kindern, wobei wahrscheinlich auch hier sprachlich vieles feststellbar gewesen wäre (obwohl nicht immer ganz leicht zuordenbar). Noch dazu erinnere ich mich, dass gerade in den Tafelbergen die beiden miteinander spaßhalber "Englisch" gesprochen haben. Wahrscheinlich wäre es jetzt bald wieder an der Zeit diese Gegend zu besuchen, damit der weitere Nachwuchs ebenfalls die Orte und Steinformationen kennen lernt, von denen Karel Čapek in seinen Märchen schreibt.

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