9. August 2021: Česká Lípa – Úštěk – Levín – Roudnice – Říp

Der gestrige Tag war sehr mannigfaltig, insbesondere weil ich immer wieder spontanen Ideen nachgegeben habe. So haben sich die ursprünglichen Pläne – ich wollte vormittags zum Říp / Georgsberg fahren und nachmittags in Ruhe Česká Lípa besuchen – bis zur Unkenntlichkeit verändert haben.

Nach dem Frühstück habe ich erst einmal den Blog für vorgestern geschrieben, was erstaunlich viel Zeit in Anspruch nahm. Ich hoffe, heute brauche ich etwas weniger Zeit, denn gestern bin ich erst gegen 11 Uhr vom Hotel aufgebrochen, in Richtung Říp. Der Říp ist ein Vulkankegel in der nordböhmischen Ebene, auf den der Überlieferung nach der Urvater Čech mit seinen Leuten gestiegen ist, um von dort aus nicht nur festzustellen, dass das Land fruchtbar ist und dass dort Milch und Honig fließen, er sah auch, dass es menschenleer war. Diese Legende hat einen festen Platz in meinen Veranstaltungen zur westslavischen Sprachgeschichte, und dort lesen wir auch immer die entsprechenden Passagen aus der Dalimil-Chronik. In früheren Jahren bin ich regelmäßig auf den Říp gestiegen, und diesen Brauch wollte ich wieder aufnehmen.

Auf der Fahrt nach Südwesten stellte ich aber bald fest, dass ich auch in Úštěk / Auscha vorbeikommen würde – und das rief in mir sofort Erinnerungen wach. In Úštěk war ich schon mehrfach, aber immer auf der Fahrt nach Levín. Und Levín, wo sich die einzige kyrillische Inschrift in Böhmen erhalten hat, ist auch einer meiner Sehnsuchtsorte, den ich öfter besucht habe. Kurzentschlossen bin ich also in Úštěk von der Schnellstraße abgebogen und erstmal in den Ort hineingefahren. Der ist nämlich auch sehr schön, ein Ensemble von spätgotischen Häusern, die als Ganzes unter Denkmalschutz stehen. Aber irgendwie fand ich keinen Parkplatz, erinnerte mich an meine ursprünglichen Pläne und habe Úštěk (nicht zum ersten Mal…) vom Auto aus besichtigt.

Ich war fast schon wieder auf der Schnellstraße, als ich einen Hinweis zum jüdischen Friedhof sah. Und da dachte ich, dass ich vielleicht wenigstens den besichtigen sollte. Denn Úštěk war im 18. und 19. Jahrhundert ein wichtiges jüdisches Zentrum. So bin ich mit dem Auto einen engen Feldweg hinaufgefahren, auf dem man aber wirklich fahren durfte, das ist deshalb klar, weil immer wieder Sträßchen zu Häusern abgingen. Unterwegs sah ich großartige Felswände und fuhr allmählich in ein Tal hinein. Irgendwann dachte ich, dass hier kaum noch ein Friedhof kommen würde, wendete und fuhr zurück, unterwegs sah ich dann einen winzigen Wegweiser, habe geparkt und bin den Hügel hinaufgestiegen. Der Friedhof liegt nämlich auf dem sog. Judenberg, er wurde im 16. Jahrhundert angelegt und ist sehr gut erhalten.

Der Weg zum Friedhof dauerte etwa eine Viertelstunde, unterwegs standen dann schon Informationstafeln über andere jüdische Denkmäler der Gegend, u.a. auch zu Roudnice. Und die Informationen zu Roudnice haben mich dann zum nächsten Abstecher bewegt, auf den ich bald zu sprechen kommen. Erst aber noch zum Friedhof von Úštěk, der schön am Hang liegt und der wider Erwarten sogar geöffnet war. So habe ich die mitgebrachte Mütze aufgesetzt und bin auf dem Friedhof herumgelaufen, wo es Gräber bis in 20. Jahrhundert hinein gibt.

Weg zum jüdischen Friedhof

 

 

 

 

Anschließend bin ich wie geplant nach Levín gefahren.  Levín ist eine Kleinstadt, die auf einem Berg liegt, sie war bis 1945 deutsch besiedelt und war eine beliebte Sommerfrische und Künstlersiedlung. Von all dem ist wenig übrig, die Häuser sind in keinem guten Zustand und es ist wenig los. Das Hotel, in dem ich irgendwann mal übernachtet habe, gibt es nicht mehr. Im Stadtzentrum war nur ein Keramikladen geöffnet, der aber auch Getränke anbietet. Ich bin zunächst in die Rundkirche von 1788 gegangen, die diesmal offen war (bei früheren Besuchen war sie das nicht…), und nach längerer Suche habe ich auch die Inschrift gefunden. Sie stammt aus einem früheren Bau und ist in der Wand eingemauert. Und man kann nur schwer sagen, was da eigentlich steht. Man sieht ein Tier, das der Volksmund zum „Kater“ erklärt hat („Levínský kocour“), das aber wohl den auferstandenen Christus darstellen soll. Und um die Figur herum stehen verstreute Buchstaben, darunter auch ein ѧ, das eigentlich nur kyrillisch sein soll. Nach einer Interpretation steht hier Христосъ витѧзь, „Christus ist Sieger“.

Nachdem die Kirche und die Inschrift ausführlich angeschaut hatte, habe ich im Keramikladen ein aromatisiertes alkoholfreies Bier getrunken und eine Keramikversion der Inschrift gekauft, dann ging es wieder in Richtung Říp, allerdings mit der Absicht, kurz nach Roudnice hineinzufahren.

Roudnice ist die nächste größere Stadt in der Nähe des Říp, dort war ich schon öfter zu Kurzurlauben, meistens in einem recht feinen Hotel, aber auch mal in einer Absteige für Sportler, die gleich noch eine Rolle spielen wird. Und über Roudnice hatte ich auf einer Informationstafel vor dem Friedhof gelesen, dass dort die Synagoge erhalten sei. Durch diese Information war ich geradezu elektrisiert, denn das war mir bei keinem meiner vielen Roudnice-Aufenthalte aufgefallen. Und da die Synagoge auch in der tschechischen Wikipedia steht, sogar mit Adresse, wollte ich sie mir anschauen.

Ich habe erst auf dem Hauptplatz geparkt, Geld abgehoben und bin ein bisschen herumgelaufen, dann fuhr ich in die Havlíčkova, wo die Synagoge sein soll. Und als erst erblickte ich links die Absteige für Sportler, von der schon die Rede war – und erbleichte. In dem Wikipedia-Artikel war nämlich die Rede davon, dass die Synagoge nach dem Krieg einige Zeit lang als Internat verwendet worden sei und dann für andere Zwecke. Wenn man ein Internat umbaut, kann man leicht eine Unterkunft draus machen, also habe ich befürchtet, dass ich in einer ehemaligen Synagoge übernachtet hätte. Die Befürchtung war aber übertrieben, die Absteige (natürlich gilt sie als Hotel, aber ich nenne den Namen nicht, damit ich nicht verklagt werde) hat die Hausnummer 2743, die Synagoge die Hausnummer 273. Wenn jetzt jemand meint, ich hätte Kilometer lang laufen müssen, um zur Synagoge zu kommen, täuscht er oder sie sich aber gewaltig. Die alten tschechischen Hausnummern richten sich nämlich nach der Bauzeit und nicht nach der Lage. Haus 273 war also schon in der Nähe, nicht ganz an der Straße und durchaus noch als Sakralbau erkennbar, wenn auch nur durch die Fenster. Eine Gedenktafel o.Ä. gibt es aber nicht, das Haus ist wahrscheinlich schon lange im Privatbesitz.

So, und dann wollte ich wirklich zum Říp fahren, inzwischen war es schon 14:30. So einfach war das aber nicht, denn die Schnellstraße, die am Říp vorbeiführt, wird umgebaut, und bald hinter der Stadt war die Straße gesperrt. Natürlich ohne Umleitung, so etwas ist hier nicht üblich. Ich bin in eine kleine Seitenstraße abgebogen, wo es wundersamerweise einen Wegweiser zum Říp gab, dem bin ich gefolgt – und geriet schnell auf einen Feldweg, der immer enger wurde. Es war sicher nicht erlaubt, dort zu fahren, aber ich konnte mich nicht entschließen zu wenden, zumal ich in der Ferne Häuser sah, so bin ich nach dem Motto „Augen zu und durch“ weitergefahren, bis nach Krabčice, einem Ort unterhalb des Říp. Von dort war es nicht mehr bis Rovné, wo es einen bezahlten Parkplatz gibt. Und von dort aus habe ich meine Pilgerfahrt angetreten.

Auf dem Říp ist zu allen Jahreszeiten viel los, so auch in diesem Jahr. Vor allem Familien mit Kindern steigen hinauf, aber auch Leute mit Rennrädern und ganz vereinzelt Senior_innen (so wie ich). Und nach etwa 40 Minuten war ich oben und stand vor der Hütte, auf der die wunderschöne Inschrift „Co Mohamedu Mekka, to Čech Říp“ steht („Was für Mohammed Mekka ist, das ist für den Tschechen der Říp“). Diese Inschrift könnte man jetzt länger interpretieren (insbesondere ist die Frage, wer eigentlich mit Čech gemeint ist), aber darauf will ich verzichten. Ich berichte nur, dass ich über das kulinarische Angebot etwas verzweifelt war, weil es faktisch nur Bier und Limonade gibt, zu essen vier Arten von Würsten und Kuchen. Ich habe einen Kuchen und Himbeerlimonade genommen, saß einige Zeit vor der Hütte und war dann noch kurz bei der Rotunde von 1126, die geöffnet war und vor der eine Schlange von Menschen stand.

Dann bin ich den Berg hinuntergestiegen, habe mir an einem Stand am Fuße des Bergs (den ich vorher ignoriert hatte) zwei Kartoffelpuffer gekauft und habe die Gegend verlassen, nicht ohne noch kurz an der protestantischen Kirche von Krabčice halt zu machen. Die ist ein imposantes Gebäude aus den Zeiten, als die Gegend noch mehrheitlich evangelisch war (!), erbaut 1885 (der Vorgängerbau ist von 1790). Sie war aber leider noch nie offen, um sie zu besichtigen müsste man sich vermutlich in dem nahegelegenen Altersheim der Diakonie melden. Aber dazu konnte ich mich bisher nicht entschließen (wer weiß, vielleicht würden sie mich gleich dabehalten).

Dann bin ich nach Česká Lípa zurückgefahren, konnte ich mich aber nicht mehr zu der gründlichen Besichtigung aufraffen… Ich war nur noch auf dem Hauptplatz, wo es eine interessante Ausstellung gibt, und zwar von Fotos aus der Zeit vor 1945, die aus der Sammlung einer ehemaligen deutschen Bewohnerin stammen. Es ist wirklich sehr schön, dass so etwas jetzt möglich ist – auch wenn in der Ausstellung die schwierigen Zeiten nicht vorkommen (die meisten Fotos dürften aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg sein). Aber wenn ich an die Zeiten denke, in denen man nicht einmal darüber hätte sprechen können, dass die Stadt einst mehrheitlich deutsch bewohnt war, ist das ein riesiger Fortschritt.

 

1 Kommentar

  • Eine schöne Runde, vielen Dank. In der Gegend dürften mal viele Korankundige gelebt haben, sonst gäbe es nicht so viele Anspielungen darauf. Dem Umstand sollte man nachgehen, aber Du musst ja weiter. Gute Reise!

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