10. August 2023: Wilamowice – Częstochowa – Pabianice

Ursprünglich wollte ich an diesem Tag gleich morgens von Bielany aufbrechen, habe meine Pläne aber geändert. Wie schon erwähnt, hatte sich bei mir P.S. gemeldet, ein guter Kenner des Wilmesauerischen. Er hatte gehört, dass ich in Wilamowice bin, und wollte sich gerne mit mir treffen und gleich auch den japanischen Doktoranden mitbringen. Und wir haben dann ausgemacht, uns um 9 Uhr auf dem Hauptplatz zu treffen und zusammen einen Kaffee zu trinken.

Als ich am Treffpunkt eintraf, wo die beiden schon auf mich warteten, stellte sich heraus, dass das einzige Restaurant von Wilamowice, das gleichzeitig auch die einzige Stelle ist, wo man einen Kaffee trinken kann, erst um 10 Uhr öffnet. Deshalb haben wir erstmal einen Spaziergang gemacht und uns dabei gut unterhalten. Vom Gespräch selbst will ich wenig berichten, es drehte sich vor allem um die Sprache und Kultur vom Wilamowice. Aber ich will davon berichten, in welchen Sprachen wir uns unterhalten habe. P. (ab jetzt will ich nur die abgekürzten Vornamen verwenden) ist Muttersprachler des Russischen, der aber schon länger in Polen lebt und Polnisch auf muttersprachlichem Niveau beherrscht. Er spricht sehr gut Wilmesauerisch, aber auch Masurisch und noch so manches andere, aber eigentlich kein Deutsch. D.h., er kann schon Deutsch lesen, aber nicht sprechen. S. hingegen ist Germanist und kann gut Deutsch, ein bisschen Wilmesauerisch und fast kein Polnisch. Seine Dissertation schreibt er übrigens über enklitische Formen von Personalpronomen im Wilmesauerischen (schön, dass man sich in Japan dafür interessiert).

Natürlich gibt es eine Sprache, die wir alle drei sprechen, aber weil ich deren Verwendung bekanntlich minimiere, nahm ich mir vor, mit S. Deutsch und mit P. Polnisch zu sprechen. Dazu bin ich aber gar nicht gekommen, weil P. anfing, Deutsch zu sprechen, bzw. eine Übergangsform zwischen Deutsch und Wilmesauerisch. Und die war wirklich großartig, vor allem bei den Verbformen. Aber es gab natürlich auch Schwierigkeit mit ähnlichen Wörtern, etwa als er – wir haben dann nämlich den Friedhof besucht – immer wieder von den Gräben dort sprach (statt von Gräbern). Am allerschönsten war aber, als P. mir erklären wollte, wie er so gut Wilmesauerisch erlernt hat, er sagte dazu, er habe nämlich einen kerper. Offenbar ist das das wilmesauerische Wort für Korpus.

Unser Spaziergang führte, wie schon gesagt, zum Friedhof, auf dem ich war schon oft war, wo es aber auch Neues zu entdecken gab. Seit zwei Jahren steht dort nämlich ein Denkmal für die Wilmesauer, die unter der deutschen und der sowjetischen Besatzung ums Leben gekommen sind. Und dort gibt es auch eine Inschrift auf Wilmesauerisch. Nach dem Friedhof sind wir in der Stadt herumgelaufen und P. hat uns beispielsweise das Haus gezeigt, in das der erste Aufzug in Wilamowice eingebaut wurde. Ich habe ihn andachtsvoll fotografiert, aber später hat sich dann herausgestellt, dass dieser Aufzug aus einer späteren Zeit stammt, und dass sich der älteste Aufzug innen im Haus befindet. Und als dann immer noch nicht 10 Uhr war, ist P. mit uns in das Feuerwerkshaus eingedrungen, wo es eine Ausstellung über die Geschichte der Feuerwehr von Wilamowice gibt, mit vielen alten Fotos aber wenig Text. Um 10 Uhr konnten wir endlich ins Restaurant, wo wir uns weiter gut unterhalten haben, gegen 11 Uhr bin ich dann wirklich von Wilamowice aufgebrochen.

Mein nächstes Ziel war die Stadt Pabianice, südwestlich von Łódź, wo ich drei Tage bleiben wollte. Die Leserin bzw. der Leser könnte sich jetzt fragen, warum ich in eine kleinere Stadt ohne Sehenswürdigkeiten fahre, aber das kann ich erklären. Hier kamen mehrere Motive zusammen: Ich wollte Łódź, wo ich vielen Jahren mal einige Stunden war, genauer kennenlernen, aber ich hatte keine Lust, ein Hotel in Łódź zu suchen (ich habe bei meinen Reisen eine gewisse Scheu vor Großstädten). So entschied ich mich für Pabianice, von dem ich wusste, dass dort einmal eine deutsche Minderheit gelebt hat (in Łódź übrigens auch), und das wusste ich, weil bei uns mal ein Seniorstudent von dort studiert hat. Er war Jahrgang 1926 und hat dort einiges erlebt, er war aber auch komplett zweisprachig (was etwas über den Status der deutschen Minderheit aussagt).

Von Wilamowice bis Pabianice sind es etwa 260 km, da empfiehlt es sich, mal Pause zu machen. Ich entschied mich, das in Częstochowa / Tschenstochau zu tun, wo ich schon sehr lange nicht mehr war, so lange, dass ich meine früheren Besuche nicht mehr ganz rekonstruieren kann. Was ich sicher weiß, ist, dass ich im Frühjahr 1979 mit meinem Bruder und zwei Freunden von ihm dort war, und dann wahrscheinlich auch auf der Exkursion durch Polen, die 1980 den Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Warschauer Polonicums angeboten wurde. Beide Besuche habe ich in schlechter Erinnerung, denn es war fürchterlich und wir konnten nur mit viel Mühe in die Basilika vordringen, in der ununterbrochen Gottesdienst gefeiert wurde. Und als wir in der Pause zwischen Gottesdiensten zum Gnadenbild vorgedrungen waren, war dieses gerade eingeschlossen worden und nicht sichtbar. Von einem der Besuche erinnere ich mich auch an eine riesige Pilgerschar auf einem Hügel vor dem Kloster, durch die man nicht hindurchgehen konnte, u. a. weil sie von Zeit zu Zeit alle auf die Knie fielen.

Dieses Mal war alles anders. Zwar begannen schon lang vor dem Klostereingang Läden und Verkaufsstände, aber es war nicht voll, und ich habe sogar einen Parkplatz an der Straße gefunden, bevor ich zum großen offiziellen Parkplatz kam – wo aber auch noch Plätze frei gewesen wären. Dann ging ich ins Kloster hinein, wo zwar viele Menschen waren, aber kein Gedränge. Vor dem Haupttor standen junge Mönche und verkauften CDs mit gregorianischen Gesängen, da habe ich mir gleich drei gekauft (aber noch nicht angehört). Und dann konnte ich problemlos in die Basilika hineingehen, bis zu einem Gitter, in dem sich das Gnadenbild befand.

Insgesamt vermute ich, dass auch hier ein gewisser Rückgang des Pilgerwesens und der Treue zur katholischen Kirche erkennbar ist (ähnlich wie in Wambierzyce). Aber vielleicht lag es auch nur am Wochentag oder an der Hitze. Wenige Tage später, an Mariae Himmelfahrt, war es sicher brechend voll wie früher. Aber an einem solchen Tag würde ich mich nie trauen, das Kloster zu besuchen.

Dann fuhr ich zügig weiter in Richtung Pabianice, wo ich kurz nach 17 Uhr eintraf. Das Hotel habe ich schnell gefunden und war erfreut festzustellen, dass es am Stadtrand inmitten von viel Grün liegt. Mich störte nicht einmal, dass die Grünanlagen in Wirklichkeit Sportanlagen waren, es hat mich ja niemanden gezwungen, dort Sport zu betreiben.

Auf der anderen Straßenseite erblickte ich einen Friedhof, und sieh da, es war der Hauptfriedhof von Pabianice, der in einen größeren katholischen und einen kleineren evangelischen Teil zerfällt. Der evangelische Friedhof ist vom katholischen umgeben, es gibt aber nur einen kleinen Durchgang. Dafür dräut über dem evangelischen Friedhof ein riesiges Mausoleum, das die Witwe des Fabrikanten Ludwig Kindler 1907–09 im Jugendstil errichten ließ. Die Behörden erlaubten dann aber nicht die Nutzung als Mausoleum, und die Witwe überließ das Gebäude der evangelischen Gemeinde als Friedhofskapelle.

Mich hat vor allem der evangelische Friedhof interessiert, und auf ihm die Spuren der deutschen Minderheit. Diese sind aber sehr spärlich bzw. fast nicht vorhanden, eher findet man polnisch beschriftete Gräber von Deutschen (etwa von Oskar Kindler, dem Bruder von Ludwig). Auch wenn man vermuten kann, dass es ursprünglich mehr deutsche Gräber gab, die nach 1945 entfernt wurden, bestärkte sich mein Eindruck, dass es in der Zwischenkriegszeit zu einer allmählichen Polonisierung der deutschen Minderheit gekommen ist. Diese wurde dann durch den Zweiten Weltkrieg unterbrochen, und die sog. Volksdeutschen wurden für kurze Zeit gestärkt und waren an Repressionen gegen die polnische Mehrheitsbevölkerung beteiligt, bevor sie dann 1944/45 zum großen Teil flohen, zum kleineren Teil vertrieben wurden.

Abends bin ich noch in die Stadt gegangen, um zu Abend zu essen. Auf dem Weg sah ich etwas sehr Interessantes, nämlich ein Hotel, das vor kurzem in eine Kirche umgewandelt wurde. Das Hotel Piemont war vor einiger Zeit geschlossen worden und wurde dann 2022 von einer evangelikalen Kirche (Kościół Chrystusowy) gemietet, die dort ukrainische Flüchtlinge unterbrachte. Und nachdem die Flüchtlinge andere Wohnungen gefunden hatte, hat die Gemeinde das Gebäude als Kirche angemietet – die Kirche wurde im März dieses Jahres eingeweiht.

1 Kommentar

  • Vielen Dank für diesen spannenden Bericht, vor allem auch die eindrücklichen Bilder. Das Hotel am Schluss schlägt diesmal alles, die Aufschrift erinnert an Las Vegas. Auf bald mit herzlichen Grüßen!

Schreibe einen Kommentar

I accept that my given data and my IP address is sent to a server in the USA only for the purpose of spam prevention through the Akismet program.More information on Akismet and GDPR.