27. August 2024: Sárospatak

Diesen Tag habe ich ganz in Sárospatak verbracht, vormittags im Reformierten Kollegium und dessen Umgebung, nachmittags in der Burg. Ich hatte noch am Vorabend festgestellt, dass das Museum im Kollegium um 10 Uhr öffnet, und bemühte mich, um diese Zeit da zu sein. Ich kam aber einige Minuten zu spät und wurde von einem etwas gelangweilt wirkenden jungen Mann an der Kasse darauf verwiesen, dass man das Museum und die Bibliothek nur mit Führung besuchen kann, und Führungen gibt es immer nur zur vollen Stunde. Darüber war ich nicht begeistert, aber der Ärger wurde deutlich dadurch gemindert, dass der junge Mann fantastisch Englisch sprach – das war mir bisher in Ungarn noch nicht begegnet. Allzu verwunderlich war es aber auch wieder nicht, denn das Reformierte Kollegium ist ja eine Art Universität, der auch ein Gymnasium angeschlossen ist. Und genau das besucht der junge Mann, wie sich dann später herausstellte.

Ich hatte also ungefähr eine Dreiviertelstunde Zeit und befragte als erstes den Herrn an der Kasse, ob er denn wisse, wo die Comenius-Statue steht. Er meinte, dass er noch nie von ihr gehört habe (immerhin wusste er aber, wer Comenius ist), er müsse nachfragen. Er ging kurz zum Gymnasium und kam dann mit der Auskunft zurück, es gebe keine Statue, sondern nur eine Büste. Die habe früher im Eingangsbereich des Gymnasiums gehangen und werde zur Zeit renoviert. Etwas unwahrscheinlich kam mir die Auskunft zwar vor, aber ich musste sie erstmal akzeptieren. In der verbleibenden Zeit habe ich dann noch einmal den Schulgarten besichtigt. Diesmal habe ich auch viele Statuen fotografiert, am Abend zuvor war es davor ein bisschen zu dunkel.

Als ich zurückkam, war eine weitere Person an der Kasse, eine Dame, die auch gut Englisch sprach, bei ihr habe ich mir die Eintrittskarte für Museum und Bibliothek gekauft – und auch gleich eine Faksimile-Ausgabe der ungarischen Version von Comenius’ Orbis Pictus. Auf Facebook und Instagram habe ich bekanntgegeben, ich würde jetzt anhand dieses Buches Ungarisch lernen. Aber damit habe ich noch nicht begonnen, und es dürfte nicht ganz einfach werden, vor allem wegen der abweichenden Orthografie.

Um 11 Uhr kam der Direktor des Museums, der mich durch die Räume führen sollte, und das war dann wirklich ein sehr angenehmes Erlebnis. Er konnte natürlich auch sehr gut Englisch, aber vor allem kannte er sich sehr gut aus und konnte auch manche merkwürdige Frage beantworten, die Slavisten halt so stellen. Das Museum hat nur wenige Räume (ca. sieben), aber die Geschichte des Kollegiums wird ausführlich und anschaulich behandelt, beginnend mit den Gebäuden. Das Kollegium wurde nämlich zunächst in Gebäuden untergebracht, die nicht sehr ansehnlich waren, und später wurden immer wieder neue Bauten errichtet, meistens an der Stelle von alten. Die heutige Form des Kollegiums stammt aus dem späten 19. Jahrhundert. Zur Baugeschichte gab es auch einen kleinen Film.

In den nächsten Räumen ging es um die Geschichte des Kollegiums in der Frühen Neuzeit, mit Informationen über all die Leute, die hier gewirkt hatten (z.B. Comenius), aber auch über die Drucke, die in Sárospatak entstanden sind. Noch ausführlicher waren die Informationen über das 19. und 20. Jahrhundert, u.a. zur Gründung des Gymnasiums und zur Schließung des Kollegiums nach 1945. Leider konnte ich im Museum nicht fotografieren und kann den Text nicht illustrieren.

 

Bevor ich mich vom Museumsdirektor verabschiedete, habe ich ihn auch nach der Comenius-Statue gefragt – und er wusste tatsächlich Bescheid. Die Statue stand ursprünglich im oder nahe beim Kollegium, wurde dann aber auf dem Imre-Makovecz-Platz aufgestellt. Der Direktor erzählte mir dann auch noch, dass es mal eine Ausstellung speziell zu Comenius gegeben habe, die aber nicht so gelungen war, weil der Autor Anhänger der These war, dass Comenius ungarische Wurzeln habe. Da habe ich interessiert nachgefragt, weil ich weiß, dass man über Comenius’ Wurzeln wenig weiß, aber es ging wohl darum, dass eine Großmutter aus Ungarn stammte (folglich Ungarin usw.).

Die Statue habe ich erst am Abend gesucht (dazu später), jetzt ging es erstmal weiter in die Bibliothek, wo mich der junge Mann führte, den ich ganz am Anfang kennengelernt hatte. Er machte das souverän, aber auch relativ kurz, d.h., es ging vor allem um den prächtigen Bibliothekssaal und die Anzahl der Bücher, aber weniger um die Bücher selbst. Von denen lagen zwar einige Exemplare in Vitrinen, aber sie waren nicht aufgeschlagen, sodass man eigentlich nur den Einband bewundern konnte.

Zwei Kolleg_innen, mit denen ich in diesen Tagen per E-Mail korrespondiert habe, fragten mich, ob ich eigentlich auch nach der Biblia szaroszpatacka fahnden würde. Diese Bibel, in Deutschland eher bekannt als Bibel der Königin Sophia, ist bzw. war die älteste Übersetzung der ganzen Bibel ins Altpolnische. Sie wurde in den Jahren 1433 bis 1453 für Zofia Holszańska (1405–1461), die vierte Gattin des Königs Władysław Jagiełło (ca. 1360–1434), angefertigt, übersetzt aus dem Alttschechischen. Die Handschrift bestand ursprünglich aus zwei Bänden, von denen der eine im 17 .Jahrhundert verloren gegangen ist, der zweite befand sich, allerdings auch nicht mehr vollständig, bis zum Zweiten Weltkrieg in der Bibliothek von Sárospatak. Nach Kriegsausbruch wurde die Handschrift zusammen mit anderen wertvollen Büchern in einen Tresor nach Budapest gebracht, und in den Wirren nach Kriegsende ist sie dann verschollen. Mein Führer wusste, als ich ihn nach der Bibel fragte, gleich Bescheid (vermutlich wird danach öfter gefragt) und bestätigte, dass die Handschrift bis 1933 in der Bibliothek gewesen sei. Und nach Kriegsende hätten die Russen sie mitgenommen. – Diese Theorie war mir offengestanden noch nicht bekannt, aber ich habe dann später nachgelesen und auch mit meinem Kölner Kollegen Daniel Bunčić korrespondiert, der mir Literatur zuschickte. Tatsächlich gibt es neuere Forschungen, die wahrscheinlich machen, dass sich die Handschrift irgendwo in der Russischen Föderation befindet. Offizielle Stellen geben aber keine Auskunft, und angesichts der aktuellen Lage wird es wohl noch länger dauern, bis dieses Problem geklärt ist.

Nach der Besichtigung der Bibliothek machte ich mich wieder auf die Suche nach der Comenius-Statue. Es war gar nicht so einfach, den Imre-Makovecz-Platz zu finden, und als ich ihn gefunden hatte, stand dort auch keine Statue. Ich habe dann (in meiner Unterkunft) noch einmal im Internet nach Angaben gesucht und habe letztlich erfahren, dass die Statue vor Gebäude der staatlichen Universität stehen soll. Diese Universität heißt offiziell „Tokaj-Hegyalja Egyetem“ (Universität Tokaj). Sie wurde 2021 gegründen und ist auf Weinbau und Touristik spezialisiert. Die Gebäude sind aber älter und stammen vermutlich vom Anfang des 20. Jahrhunderts (Genaueres konnte ich bisher nicht feststellen). Die Gebäude werden derzeit restauriert und sind zum Teil abgesperrt. Ja, und hinter einer solchen Absperrung habe ich wirklich die Statue gefunden, bzw. ihren Sockel. Der steht nämlich doch da, während die Statue entfernt wurde, vermutlich um sie während der Bauarbeiten in Sicherheit zu bringen.

 

In der Mittagszeit war ich noch einmal kurz in der Kirche der Hl. Elisabeth und habe dann im „Elisabeth Café Sárospatak“ einen Kuchen gegessen und Limonade getrunken. Am Nebentisch saß eine größere Familie, die sich lebhaft unterhielt, und ich hatte auf einmal den merkwürdigen Eindruck, als würde ich gelegentlich etwas verstehen. Des Rätsels Lösung bestand dann darin, dass wirklich von Zeit zu Zeit slowakische Wörter oder ganze Sätze fielen… Wahrscheinlich handelte sich um Ungarn aus der Slowakei, aber ich habe nicht nachgefragt.

Anschließend habe ich das Schloss besichtigt. Die Besichtigung bestand aus zwei Teilen, nämlich dem Besuch im Rákoczi-Museum, in dem man selbständig herumgehen kann, und einer Führung durch den Roten Turm. Im Museum sind die wichtigsten Informationstafeln zweisprachig (ungarisch und englisch), was die Orientierung deutlich erleichtert. Die Führung gibt es nur auf Ungarisch.

Im Museum wird man ausführlich über die Geschichte der Familie Rákoczi informiert, deren Aufstieg mit Sigismund I. Rákoczi († 1608) begann, der 1607 zum Fürsten von Siebenbürgen gewählt wurde. Er herrschte dort nur kurz, aber sein Georg I. Rákoczi (1593–1648) herrschte dort 18 Jahre lang und baute auch seine Macht in Ungarn deutlich aus. 1645 erhielt die Würde eines Reichsfürsten. Zusammen mit seiner Frau Zsuszanna Lorántffy war er Förderer des Reformierten Kollegiums. Nicht so erfolgreich war sein Sohn Georg II. Rákoczi (1621–1660), der auch zeitweise den siebenbürgischen Thron einbüßte. Er hatte eine Katholikin geheiratet, die nach seinem Tod zum Katholizismus zurückkehrte, deshalb waren die beiden nächsten Vertreter der Familie, Franz I. Rákoczi (1645–1676) und Franz II. Rákoczi (1676–1735), Katholiken. Franz I. war am Magnatenaufstand von 1670/71 beteiligt und entkam nur dank der Mühen seiner der Mutter der Hinrichtung. Seine Witwe Helena (1643–1703) heiratete den viel jüngeren Emmerich Thököly (1657–1705), den Anführer des sog. Kuruzen-Aufstands (1677–1687), der sich im Wesentlichen in der heutigen Slowakei abspielte – nach dessen Niederschlagung floh er ins Osmanische Reich, wo er in İzmit/Nicomedia starb und begraben wurde. Sein Stiefsohn Franz II. Rákoczi führte dann den letzten großen Aufstand von 1703 bis 1711 an und besetzte zeitweise große Teile Ungarns. Der Aufstand wurde zwar niedergeschlagen, den Ungarn wurden aber im Frieden von Sathmar viele Zugeständnisse gemacht (u.a. Religionsfreiheit). Franz II. Rákoczi musste aber in die Türkei fliehen, von wo aus er noch mehrere Versuche machte, wieder an die Macht zu kommen. 1735 ist er in der Türkei gestorben und wurde 1906, ebenso wie seine Mutter und sein Stiefvater, nach Ungarn umgebettet. Seine Mutter und er sind im Dom von Košice/Kaschau begraben, sein Stiefvater in der evangelischen Kirche von Kežmarok/Kesmark.

Die Führung durch den Roten Turm begann sozusagen im Keller, wo man dann auch mehrere Brunnen sehen kann, und führte durch viele Räume und auch eine Kirche. Viel kann ich dazu aber nicht sagen, weil die Führung wie schon gesagt auf Ungarisch war. Ich bin zwar immer wieder angetan davon, wie viele Wörter ich kenne, aber zum Verstehen ganzer Sätze reicht das leider nicht aus. Am Schluss standen wir dann ganz oben auf dem Turm, mit einem schönen Blick auf die Stadt und die Landschaft.

Abends kündigte sich ein Gewitter an, deshalb wollte ich keine großen Experimente machen und bin wieder in der Trappistengaststätte essen gegangen. Diesmal klappte die Verständigung in einer Mischung aus Englisch und Ungarisch schon ganz gut. Der Kellner stellte mir das Essen auch noch mit dem Wunsch nech sa páči hin – das heißt guten Appetit, und zwar auf Slowakisch. Erst dachte ich, dass er eben ein paar Floskeln in Nachbarsprachen kennt, aber weit gefehlt, er war sogar Slowake! Davon hatte ich freilich nur noch wenig, weil ich ja schon bestellt hatte und es nichts gab, was ich noch hätte klären müssen.