Der 6. August war ein Sonntag, und an Sonntagen gehe ich, insbesondere wenn ich in slavischen Ländern bin (aber auch sonst) gerne in einen evangelischen Gottesdienst. Dieses Mal war ich aber vor schwere Zweifel gestellt, ob ich zu den Protestanten gehe oder doch lieber zu den Altgläubigen. Beide haben in Suwałki Homepages, die ziemlich professionell gemacht sind, aber eher allgemein informieren, als dass sie aktuelle Termine mitteilen würden. Die
Homepage der Protestanten bzw. der Evangelisch-Augsburgischen Gemeinde in Suwałki teilte aber wenigstens mit, dass die Gottesdienst jeweils sonntags um 9 Uhr stattfinden. Die
Homepage derAltgläubigen, die zur „Östliche Altritualistischen Kirche ohne geistliche Hierarchie“ (Wschodni Kościół Staroobrzędowy nie posiadający hierarchii duchownej) gehören, ist zwar künstlerisch wertvoller, enthält dafür über keine praktischen Informationen außer der, dass der Vorsitzende der Gemeinde am 2. Juli zurückgetreten ist und durch einen anderen ersetzt wurde.
Ich bin trotzdem erst zur Molenna der Altgläubigen gefahren, die ziemlich stattlich aussieht, bei der man aber nicht einmal bis zum Eingangstor kommt. Denn vor dem Kirchengelände ist das Gemeindehaus vorgelagert, und auch da war die Tür zum Hof versperrt und nirgends ein Mensch zu sehen. So ging es weiter zu den Protestanten, die eine hübsche kleine Kirche von 1841 haben. Als ich kam, waren neun Gläubige da, ich war der zehnte, der Pfarrer, der kurz nach mir kam, der elfte. Während des Gottesdienstes kamen noch ein Vater mit zwei Kindern und ein junger Mann mit Fahrrad hinzu (der das Fahrrad im Vorraum der Kirche verstaute), aber insgesamt war es ein kleines Häuflein. Einen Organisten gab es nicht, sondern der Pfarrer rannte zu Beginn jedes Lieds durch die Kirche nach hinten, stieg auf die Empore und schlug die Orgel selbst, begleitet von dröhnendem Gesang. Die Gemeinde sang hingegen gar nicht bzw. bewegte nur die Lippen, da bin ich am Anfang wohl unangenehm aufgefallen (weil ich auch gerne laut singe), habe mich dann aber zurückgehalten. Da in Polen (heute) die Lutheraner alten Stils vorherrschen, wurde auch die Liturgie gesungen, und der Pfarrer sang beide Teile, seinen eigenen und den für die Gemeinde bestimmten – wahrscheinlich kennt er seine Schäfchen schon.
Bei der Predigt bin ich nicht ganz mitgekommen (ich hatte etwas Schwierigkeiten mit der Aussprache des Pfarrers), aber offenkundig wurde ein Gegensatz zwischen den wenigen Gläubigen und den anderen hergestellt, ein Gedanke, der sicher auch mal in deutschen Gottesdiensten vorkommt, aber in der totalen Diaspora vermutlich viel häufiger. Das Abendmahl war auch interessant, die Gläubigen knieten am Altar und der Pfarrer steckte einem die Oblate in den Mund und hielt den Kelch hin – das kam mir ziemlich katholisch vor (obwohl ich natürlich weiß, dass die Katholiken im Normalfall keinen Kelch bekommen). Dazu passte dann auch das Abendmahl mit echtem Wein, wonach man in Deutschland schon suchen muss.
Bei den Abkündigungen fing der Pfarrer auch noch einmal mit der Diaspora an, berichtete von der Schändung der evangelischen Kirche von Pisz, wo jemand eine obszöne Zeichnung und die Aufschrift Tutaj jest Polska („Hier ist Polen“) angebracht hatte, freute sich, dass die Stadt Suwałki ihn (oder die Gemeinde?) geehrt hat, obwohl es nur 75 Evangelische gebe (bei einer Stadtbevölkerung von ca. 69.000) usw. Ich bin dann lieber gegangen, ohne ihn anzusprechen… Später habe ich gelesen, dass dieser konkrete Pfarrer auch Militärpfarrer ist – da fühlt man die Konkurrenz zur katholischen Kirche vermutlich noch stärker und passt sich in Details auch an.
Danach bin ich von Suwałki nach Krasnogruda gefahren, durch Sejny und über einsame Straßen nahe der litauischen Grenze. Die Beschilderung ist eher zurückhaltend, aber wenigstens war dann irgendwann das Internationale Dialogzentrum ausgeschildert, so fand ich das Landgut schnell, fuhr ins Gelände hinein – und stand ganz allein vor dem beeindruckenden Gebäude. Drinnen war wenigstens eine junge Frau, die mir eine Eintrittskarte verkaufte, mir die Struktur des Hauses erklärte und mich gleich zu einem Konzert „o dwudziestej“ einlud, mit jiddischen Chansons aus der Vorkriegszeit. „O dwudziestej“ heißt „um 20 Uhr“, aber weil ich mit polnischen Ordinalzahlwörtern immer noch Probleme habe, dachte ich erstmal, das Konzert sei um 12 (das hieße „o dwunastej“). Ich habe mich nicht getraut, nach dem Leiter des Hauses, Krzysztof Czyżewski, zu fragen, auf den mich Aleksandra Konarzewska extra hingewiesen hatte – er war offenkundig noch gar nicht da.
So habe ich das Haus besichtigt, das im Wesentlichen aus großen und weitgehend leeren Zimmer besteht, an deren Wänden Gedichte und Texte von Czesław Miłosz angebracht sind, teilweise bebildert mit zeitgenössischen Fotografien. Das mag nach wenig klingen und ist doch sehr beeindruckend, insbesondere wenn man bis kaum Texte von Miłosz gelesen hat (ich muss gestehen, dass meine Kenntnisse nicht über Auszüge aus Prosatexten und einige wenige Gedichte hinausgehen). Auch Biografisches über ihn und die Geschichte der Familie seiner Mutter ist hier zu finden, so habe ich auch erfahren, dass die Familie (ich weiß nicht mehr, ob die des Vaters oder der Mutter) ursprünglich Calvinisten waren, die erst um 1800 katholisch geworden sind. Es gibt auch eine Bibliothek, die man benutzen kann und die sehr gut sein soll, und im Keller eine literarisches Café.
Um 12 Uhr war ich zwar nicht mehr ganz allein, es hatten sich weitere Besucher_innen eingefunden, und auch das „Personal“ bestand jetzt aus mehreren Leuten, aber dafür gab es natürlich kein Konzert. So habe ich drei Bücher gekauft, darunter einen Band von Essays von Krzysztof Czyżewski, habe versprochen, dass ich abends zurückkomme, und begab mich nach Sejny. Hier habe ich zu Mittag gegessen, natürlich etwas Regionales bzw. Litauisches, und zwar „socziewaki“, das sind aus Kartoffelteig hergestellte Piroggen, die mit Linsen gefüllt sind – wirklich etwas sehr Gutes und wirklich vegetarisch. Und dann begab ich mich zur Synagoge von Sejny, der sog. Weißen Synagoge (erbaut 1860–70), die zwar von den Nazis verwüstet wurde, aber immerhin noch steht, zusammen mit der ihr gegenüberliegenden Jeschiwa und dem ehemaligen Hebräischen Gymnasium. Alle drei Gebäude werden heute von der Stiftung Grenzland (Nadacja Pogranicze) verwaltet, deren Leiter Krzysztof Czyżewski ist und der auch Krasnogruda gehört. In der Synagoge ist eine Ausstellung, in der Jeschiwa eine Musikschule und im Gymnasium sind wohl Verwaltungsräume.
Ich war nur in der Synagoge, wo zeitgenössische Kunst ausgestellt ist. Die Dame an der Kasse war sehr mitteilsam und erzählte mir als erstes, die größte Attraktion seien die 18 Fensternischen, die ein neunzigjähriger Kunstprofessor aus der Region ausgemalt habe. Und zwar habe der Professor in jeder Nische einen Traum, den er gehabt hat, dargestellt. Über die Bilder als solche will ich nicht richten (wer sich für den Künstler interessiert, kann ja mal googeln – er heißt Andrzej Strumiłło), aber bei der Vorstellung, dass die Träume neunzigjähriger Professoren zum Gegenstand von Kunstwerken werden, wurde mir ganz anders (auch wenn ich noch lange nicht 90 bin).
Die Dame an der Kasse machte auch noch einmal Werbung für das abendliche Konzert. Von ihr erfuhr ich, dass beim dem Konzert unter dem Titel „Eybike Mame“ (der Titel lässt sich schwer übersetzen, eybik heißt jedenfalls ewig) die Frau von Krzysztof Czyżewski singen würde, begleitet von einem Klezmer-Orchester von jungen Männern. Spätestens hier war klar, dass ich auf jeden Fall in das Konzert gehen musste! Danach habe ich noch die Klosterkirche besichtigt, die zwar eindrucksvoll ist, in der aber das Schönste eine Fotoausstellung über die Wiedereröffnung im Jahr 1973, mit Jugendbildern von Karol Wojtyła. Vor ihr steht ein Denkmal, in dem ich zunächst einen Sowjetsoldaten vermutete und dann den polnischen Papst – es handelt sich aber um den litauischen Dichter und Wiedererwecker Antanas Baranauskas alias Antoni Baranowski (1835–1902).
Nachmittags habe ich mich ausgeruht und bin dann abends zum Konzert gefahren, wieder den langen Weg über Kleinstraßen. Und ich war gerade noch rechtzeitig da, um einen Sitzplatz zu bekommen. Das Café war nämlich gut gefüllt, der Blick auf die Bühne nur mit Verrenkungen möglich. Es folgte ein reichhaltiges Programm von jiddischen Chansons und Liedern, vorgetragen von Małgorzata Sporek-Czyżewska. Die Texte wurden teils zusammengefasst, teils las Krzysztof Czyżewski eigene Übersetzungen der Lieder. Das Programm blieb auch nicht beim 20. Jahrhundert stehen, sondern es wurden auch Texte von Morris Rosenfeld (1862–1923) vorgetragen, einem berühmten jiddischen Dichter, der aus Sejny stammte.
Nach dem Konzert habe ich mich aufgerafft, habe Krzysztof Czyżewski angesprochen und mich vorgestellt. Das kostete mich einige Überwindung, da mir nicht klar war, wie ich ihn für mich interessieren kann. Aber schließlich haben dann doch die Namen einiger gemeinsamer Bekannter genügt. Er war sehr freundlich und fragte, ob ich am nächsten Tag vorbeikommen könne. Sodass ich mich dann entschloss, noch einen Tag in der Suwałszczyzna zu bleiben und erst dann weiterzufahren. Am nächsten Tag abends sollte um 18 Uhr ein Film gezeigt werden, und ich versprach, eine halbe Stunde vorher vorbeizukommen.
|
Unzugängliche Molenna von Suwałki |
|
Weg im Park von Krasnogruda |
|
Das Herrenhaus von Krasnogruda |
|
Die „Weiße Synagoge“ von Sejny |
|
Die ehemalige Jeschiwa von Sejny |
|
Denkmal für den litauischen Dichter Antanas Baranauskas |
|
Klosterkirche von Sejny |
|
Tor der Klosterkirche |
|
Inneres der Klosterkirche |
Ähnliche Beiträge
Als Katholik wollte ich nur anmerken, dass der Kelch in meiner Kindheit wirklich noch eine Ausnahme darstellte, aber dieser Tage in Wien bei der Kommunion eigentlich immer dabei ist (man muss nicht, aber man darf). Und natürlich ist es Wein. Ich denke, das hängt mit einer geänderten Praxis und der ungleich geringer gewordenen Zahl an Gläubigen zusammen, die heute noch den Gottesdienst besucht. Bei den paar Menschen ist die Kelchkommunion kein wirklicher Mehraufwand. https://de.wikipedia.org/wiki/Kelchkommunion#Heutige_Praxis