13. August: Puławy – Wilamowice – Kęty

Am Sonntag begann die Rückreise… Ich fahre natürlich nicht in einem Stück zurück, sondern in Etappen, und zwei Stationen waren fest eingeplant, nämlich zunächst im schlesischen Wilamowice (dazu gleich mehr) und dann im ostböhmischen Pardubice (wo ich diesen Text schreibe).
Zur Fahrt von Puławy bis Wilamowice ist nicht besonders viel zu berichten. Die Strecke führt zwar an diversen Versuchungen vorbei, insbesondere an Krakau, aber es war von vornherein klar, dass es nicht sinnvoll ist, eine Kurzbesichtigung von Krakau einzuschieben, wo ich schon relativ oft gewesen bin. Als ich unterwegs feststellte, dass ich durch die Woiwodschaft Heiligkreuz (Województwo świętokrzyskie) fahre, in der ich auch schon am Vortag gewesen war (Sandomierz gehört nämlich ebenfalls zu dieser Woiwodschaft), kam mir spontan die Idee, im Heiligkreuzkloster vorbeizuschauen, nach dem die Woiwodschaft benannt ist. Dort war ich noch nie, gleichzeitig wird mir das Kloster regelmäßig ins Gedächtnis gerufen, wenn ich im Unterricht das älteste polnische Sprachdenkmal behandele, nämlich die Kazania świętokrzyskie, die Aleksander Brückner 1890, zerschnitten in handliche Streifen im Buchrücken eines Kodex aufgefunden hat, der in der Kaiserlichen öffentlichen Bibliothek in St. Petersburg aufbewahrt wurde.
Bei Betrachtung der Karte hatte es den Anschein, als sei das kein großer Umweg, aber ich hätte mich vielleicht doch kundig machen sollen, was es mit dem Kloster auf sich hat. Dieses liegt nämlich im Gebirge und ist nur relativ schwer zugänglich, d.h. man muss wohl zwei Kilometer zu Fuß gehen. Das wäre ja auch kein Problem – wenn man es vorher wüsste. Aber ich bin zunächst von meinem Navi nach Nowa Słupia geleitet worden, dem üblichen Ausgangspunkt zum Kloster. Nur war hier der gesamte Ort wegen eines riesigen archäologischen Festivals abgesperrt. Und in Huta Szklana, dem anderen Ausgangspunkt, hätte ich gleich in einen Parkplatz hineinfahren müssen, vor dessen Eingang Pferdefuhrwerke auf Tourist_innen warteten. Da bin ich dann doch geflohen bzw. weitergefahren, an Kielce und Krakau vorbei und in Richtung Oberschlesien. Kurz vor Oświęcim/Auschwitz bin ich nach Süden abgebogen und war etwa um 17 Uhr in Wilamowice bzw. Wilmesau.
Jetzt muss ich wohl etwas genauer erklären, warum ich nach Wilamowice gefahren bin und was dort so interessant ist. Von Wilamowice habe ich zum ersten Mal im Oktober 2002 gehört, auf einer Tagung zum deutsch-slavischen Sprachkontakt. Dort hat Tomasz Wicherkiewicz über diese Stadt und ihre Sprache berichtet, der er auch ein ganzes Buch (“The Making of a Language: The Case of the Idiom of Wilamowice, Southern Poland”) gewidmet hat. Wilamowice ist eine kleine Stadt mit ca. 3.000 Einwohnern, auf halber Strecke zwischen Oświęcim/Auschwitz im Norden und Bielsko-Biała/Bielitz-Biala im Süden, von beiden etwa 15 km entfernt. Und dort wird bzw. wurde eine eigene Sprache gesprochen, die zwar irgendwie westgermanisch ist und mit etwas Fantasie als deutscher Dialekt durchgehen würde. Aber sie weicht doch recht stark von den deutschen Dialekten ab, die es in der Gegend früher gab, konkret in der sog. Bielitzer Sprachinsel. Von dieser war Wilamowice aber durch polnische Dörfer getrennt, bzw. genauer gesagt bildete auch Wilamowice eine (sehr kleine) Sprachinsel in polnischem Gebiet.
Wilamowice war eine relativ reiche Stadt, die sich 1808 selbst aus der Leibeigenschaft freikaufte und 1818 Stadtrechte erhielt. Die Stadt war bekannt für ihre Webereien, die die Kaufleute aus Wilamowice in ganz Europa verkauften. Und die Bewohner_innen waren sich durchaus ihrer Besonderheit bewusst. Sie heirateten fast nur unter sich (weshalb es in Wilamowice heute auch nur eine kleine Zahl von Familiennamen gibt) und galten in der Umgebung als „weiße Juden“, was sich wohl vor allem auf den Handel, aber auch auf die Sprache bezog. Ihnen war auch wichtig, dass sie keine Deutschen sind, sondern von irgendwo anders gekommen seien, beispielsweise aus England (hier diente als Argument, dass in Wilamowice der Nachname Fox bzw. Foks häufig ist) oder aus Flandern. Ausdruck fand dies alles in den Werken des Schriftstellers Florian Biesik (1854–1926), der eine eigene Orthografie (auf der Grundlage der polnischen) festlegte und zahlreiche Werke verfasste, darunter ein Dante (!) nachahmendes Poem Óf jer wełt (In der anderen Welt). Neben diesem Schriftsteller hat Wilamowice auch einen eigenen Heiligen, den Hl. Józef Bielczewski (1860–1923), der sich im Ersten Weltkrieg Verdienste durch Vermittlung zwischen den Nationen erworben hatte und zuletzt Erzbischof von Lemberg war.
Da Wilamowice politisch zu Galizien gehörte und ab 1918 zu Polen, war der polnische Einfluss enorm, Kirche und Schulwesen waren polnisch. Aber ansonsten wurde im Alltag die eigene Sprache verwendet. Als 1939 die deutschen Truppen das Gebiet besetzten, stuften sie die Bewohner_innen von Wilamowice als Deutsche ein und zwangen sie, die sog. Volksliste zu unterschreiben. 1945 drohte dann die Vertreibung, gegen die sich die Frauen von Wilamowice in der Form zur Wehr setzten, dass sie darauf verwiesen, sie seien nun gerade keine Deutschen, sondern Engländer_innen. Dies wurde akzeptiert, aber nur unter der Bedingung, dass die Sprache nicht mehr verwendet werden dürfe (angeblich wurde das 1945 von der Kanzel verkündigt). Die Einheimischen wurden aus ihren Häusern vertrieben, die Männer teilweise nach Russland deportiert. 1956 kamen sie zurück, und die Einwohner_innen bekamen auch ihre Häuser zurück. Aber erst nach 1989 trauten sie sich wieder, ihre Sprache zu verwenden und ihre Folklore vorzuführen.
In den über vierzig Jahren war die natürliche Weitergabe der Sprache an die Kinder abgebrochen worden, folglich gab es dann zu Anfang der neunziger Jahre auch fast nur noch Sprecher_innen, die vor 1930 geboren waren. Ein baldiges Aussterben der Sprache war in Sicht. Und das war der Stand, als ich es im August 2008 endlich geschafft habe, Wilamowice zu besuchen. Ich kam an einem sehr heißen Tag in die Stadt, habe erst im örtlichen Wirtshaus zu Mittag gegessen (wo natürlich alles polnisch war) und habe dann das Kulturhaus gefunden, wo mir Mitarbeiter der Stadtverwaltung gerne Auskunft erteilten. Meiner Erinnerung nach gab es da auch eine kleine Ausstellung, vor allem aber meinten die Mitarbeiter_innen, ich müsse unbedingt Tymek kennenlernen, einen jungen Mann, der die Sprache spricht. So brachte denn ein Herr aus dem Kulturhaus mich und auch einen zufällig ebenfalls nach der Sprache von Wilamowice suchenden Warschauer zu einem Haus, wo ich den damals 15-jährigen Tymek kennenlernte, der dort mit einem Mädchen gleichen Alters bei einer alten Frau zu Besuch war, der Frau, von der er die Sprache gelernt hatte. Wir haben uns länger unterhalten, im Wesentlichen auf Polnisch (denn als Deutscher versteht man das Wilmesauerische nur mit großer Mühe). Aber er sprach mir auch einzelne Sätze vor und ich machte ein paar Notizen. Eine Aufnahmegerät hatte ich nicht dabei (und hätte damit auch nicht umgehen können). Am Schluss hat er mir noch eine Webseite genannt, die sich mit der Sprache beschäftigt.
Leider hatte ich damals große Probleme, ein Hotel zu finden, bin letztlich nach Bielsko-Biała gefahren und am nächsten Tag auch nicht mehr zurückgekommen. Zu Hause habe ich mich lange mit unserem früheren Lektor Oskar Obracaj über das Thema unterhalten, der selbst aus der Gegend von Bielitz stammte und mir einige Literatur beschafft hat. Leider fanden diese und andere Diskussionen ein jähes Ende, als er im August 2012 plötzlich verstorben ist. Und ich habe mich immer weiter vom Thema entfernt und nur von Zeit zu Zeit im Internet gesucht, ob sich in Wilamowice etwas tut.
Ja, und am Sonntagnachmittag war ich wieder in der Stadt und sah sofort, dass sich einiges getan hat. Es gibt zwar kein zweisprachiges Ortsschild, aber man wird mit einer Tafel begrüßt, auf der u.a. auch Skiöekumt y Wymysöu steht. Im Ort selbst sind an den Bauwerken dreisprachige Informationstafeln angebracht, auf Polnisch, Englisch und Wilmesauerisch. Das schien mir nun doch ein großer Fortschritt gegenüber 2008, ich habe viele Tafeln fotografiert und die schöne, rätselhafte Sprache genossen. Zu hören war natürlich nur Polnisch, da hat sich nichts geändert, und ich machte mich an diesem Tag auch nicht auf die Suche nach Sprecher_innen, sondern nach Hotels.
Die Hotelsuche war aber viel leichter als vor neun Jahren, weil ich mich schon vorher informiert hatte und beispielsweise von einem Hotel Relax im nahegelegenen Kęty/Kenty wusste. Dort sagte man mir, es sei nur noch ein (etwas teureres) Apartment frei, und empfahl mir ein weiteres Hotel im selben Ort, das allerdings ausgebucht war. An der Straße entdeckte ich dann eine wunderschöne Werbung für ein weiteres Hotel, die nämlich so aussah, dass man aufgefordert wurde zu wenden (vgl. das Bild unten), aber auch hier war ausgebucht. So kehrte ich zum Relax zurück, wo man mir auch gerne ein Apartment gab. Es handelte sich im Übrigen um ein Sporthotel, wo eine riesige Jugendgruppe aus Starachowice untergebracht war (das liegt in der Woiwodschaft Heiligkreuz), alles Jungen zwischen 8 und 14 Jahren. Aber sie waren erstaunlich brav und das Haus gut gebaut, so habe ich wenig von ihnen bemerkt.
Begrüßung in Wilamowice
Kirche von Wilamowice
Dreisprachige Informationstafel
Wilmesauerische Aufschrift auf dem Denkmal des Hl. Józef Bilczewski
Hotelwerbung in Schlesien

1 Kommentar

  • Einmalige Schilderung, vielen Dank! ☀ಠ‿ಠ☀ Die Schilderung zu Beginn mit Brückner hat mich wieder einmal eine Überlegung machen lassen, die ich schon des Öfteren getätigt habe: Wie kamen die Herrschaften damals dazu z. B. im Buchrücken eines Kodex in handliche Streifen zerschnittene Sprachdenkmäler aufzufinden? Wie viele Buchrücken hat etwa Brückner in der Kaiserlichen öffentlichen Bibliothek in St. Petersburg eigentlich aufgeschnitten, bis er einen Fund machte?

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