16. August: Besuch bei den Palóczen

Gestern Vormittag bin ich dann doch noch einmal nach Ungarn hinübergefahren, auch wenn ich die Gegend auf der anderen Seite der Grenze eigentlich schon kenne. Dieam nächsten bei Fiľakovo gelegene Stadt Salgótarján habe ich aber ausgespart, weil es um eine relativ junge Bergbau- und Industriestadt geht, ohne viele Sehenswürdigkeiten. Statt dessen habe ich mich nach Westen gewendet, nach Szécsény – das ist eine nette kleine Stadt mit dem bekannten Barockschloss Forgács. Dort war ich 2012 schon einmal und damals völlig überwältigt von dem Museum, das fast durchgängig nur auf Ungarisch beschriftet war.
Ich fuhr durch eine schöne Landschaft mit kleinen Dörfern, Feldern und Wäldern, nur gestört durch die gelegentlichen Plakate zum Flüchtlingsreferendum am 2. Oktober. Dass die demagogisch sind, versteht man schon fast ohne Wörterbuch. So wird darüber informiert, dass in Libyen eine Million Flüchtlinge auf die Flucht nach Europa warteten oder dass die Pariser Anschläge von Einwanderern verübt wurden. Das einzige nette Erlebnis war, dass ich erfahren habe, dass ‘Einwanderer’ bevándorló heißt – Wörter, die deutsche oder slavische Elemente enthalten, merke ich mir ja immer besonders leicht.
In Szécsény angekommen machte ich mich zunächst auf die Suche nach einem Geldautomaten. Einen solchen habe ich zwar gefunden, aber er wollte meine Bankkarte nicht akzeptieren, auch der zweite nicht. Da ich mich erinnerte, dass ich das Problem auch schon in Sárospatak hatte, ging ich schließlich ineine Sparkasse, wo ich dann auch wirklich etwas auf Ungarisch sagte. Eine Angestellte probierte es mit mir aus und meinte, die Karte sei beschädigt. Was wahrscheinlich sogar stimmt, denn die Automaten des Tübinger Studentenwerks nehmen sie seit einiger Zeit auch nicht mehr an – nur soll das laut den Damen vom Studentenwerk an den Automaten liegen… Wie dem auch sei, ich habe dann gefragt, ob ich Geld wechseln könnte, das konnte man aber in der Sparkasse gerade nicht. Ich musste zu einer Bank, wo auch alles schnell ging und wo mich die Bankangestellte wiederum damit überraschte, dass sie mittendrin auf Deutsch sagte: Bitte schreiben Sie Ihre Adresse auf– sie konnte nämlich die Adresse auf dem Personalausweis nicht lesen. Ich sprach dann Deutsch mit ihr, aber das war auch nicht das Richtige – sie konnte offenbar nur einzelne Sätze!
Dann habe ich zu Mittag gegessen, diesmal wirklich mit Bestellung auf Ungarisch etc., ich gebe aber zu, dass ich das Menü bestellt habe, das ich mir vor der Tür schon übersetzt hatte. Und ich habe gelernt, was ‘alkoholfreies Bier’ heißt (alkoholmentes sör), aber das habe ich bis zum nächsten Besuch in Ungarn sicher wieder vergessen.
Dann war ich am Schloss, das eine Ausstellung über die Geschichte von der Urzeit bis heute enthält, dazu auch Sonderausstellungen (momentan zu polnischen Stickereien). Ich habe mehr verstanden als beim letzten Mal, aber nicht wirklich die Tafeln gelesen, sie sind nämlich, wie man so sagt, sehr textlastig. Beeindruckt war ich von den Urmenschen (woher man wohl weiß, wie die gekleidet waren?) und dem Modell des Landtags von Szécsény, vom 20. September 1705 Ferenc II. Rákoczi zum Fürsten von Ungarn gewählt wurde.
Und dann bin ich nach Balassagyarmat (slowakisch Balážske Ďarmoty, deutsch Jahrmarkt) weitergefahren, wo ich vor vierJahren mal mehrere Tage verbracht habe. Mich hat die Stadt damals vor allem deshalb interessiert, weil dort Josef Dobrovský geboren ist, aber davon sind keine Spuren mehr zu entdecken. Balassagyarmat ist aber auch sonst interessant, insbesondere als Hauptort der sog. Palóczen. Das ist der nördlichste ungarische Stamm (auch die Ungarn in der Slowakei gehören dazu) mit einem etwas stärker von der Standardsprache abweichenden Dialekt, der vermutlich ein slowakisches Substrat aufweist (z.B. werden ö undü teilweise durch e und i ersetzt). Über die Palóczen hat beispielsweise Kálmán Mikszáth von Kiscsoltó (1847–1910)geschrieben, ein aus der Gegend stammender Schriftsteller – und bei weitem nicht der einzige Schriftsteller, der hier sein Unwesen getrieben hat. Die Stadt ist voller Gedenktafeln an ungarische Geistesgrößen… Wichtig ist vor allem noch Imre Madách (1823–1864), der die „Tragödie des Menschen‟ (Az ember tragédiája) geschrieben hat, eine Art ungarischer Faust. Außerdem ist Balassagyarmat dadurch bedeutsam, dass sich die Stadt 1919 dagegen gewehrt hat, an die Tschechoslowakei angegliedert zu werden. Daher trägt sie den Ehrentitel Civitas fortissima.
Ich bin nur kurz durch die Stadt gegangen und habe mich dann ins Palóczen-Museum begeben, auch hier in der Hoffnung, mehr zu verstehen als beim letzten Mal. Das wurde dann auch dadurch gefördert, dass man mir einen Deutsch sprechenden Museumsmitarbeiter zur Seite gestellt hat, der immer wieder versuchte, die Themen auf Deutsch zusammenzufassen. So richtig umwerfend war sein Deutsch aber nicht, wenn auch besser als mein Ungarisch (was nicht schwer ist). Er schien auch nur über Kenntnisse des deutschen Wortschatzes zu verfügen, ohne jede Grammatik (während ich ja schon versuche, in ganzen Sätzen zu reden).
Das Museum ist letztlich eine nationalistische Inszenierung der Palóczen. Schon gleich am Eingang hängt eine Karte des Komitats Nógrád(slowakisch Novohradská župa), einschließlich der heute slowakischen Gebieten (oder, wie mein Begleiter meinte, „leider‟ heute slowakischen Gebiete). Dann gibt es eine Ausstellung über das Leben der Palóczen (von der Geburt bis zum Grab), über Palóczen im Ersten Weltkrieg, über den ersten Direktor des Palóczen-Museums (Iván Nagy, 1824–1898), sein Arbeitszimmer, seine Bibliothek. Und nirgends kommt ein anderes Volk oder eine andere Sprache vor, auch in der Bibliothek stehen bis auf ein oder zwei lateinische Bücher nur ungarische. Dann gibt es noch ein Freilichtmuseum, angeblich das älteste in Ungarn, das besteht aus einem (!) Bauernhaus mit Nebengebäuden, einer Kapelle, einem Kreuz und ca. zehn Sonnenkollektoren, die irgendeine tiefere Bedeutung haben, die ich nicht verstanden habe. Ja, und ein Denkmal an den Vertrag von Trianon, mit dem 1923 die Abtretung „Oberungarns‟ an die Tschechoslowakei besiegelt wurde. Ich finde das alles ziemlich unerfreulich, womit ich nicht sagen will, dass ich die Aufteilung des Vielvölkerstaats Ungarn in „Nationalstaaten‟, die dann alle wieder Minderheiten hatten, eine glückliche Lösung fände. Aber man muss auch zur Kenntnis nehmen, dass dieser Zustand jetzt schon fast hundert Jahre andauert und sicher lange erhalten bleiben wird. Die Auflösung in einer größeren politischen Einheit (die man sich als Lösung vorstellen könnte) wünscht hier ja wirklich niemand, und momentan sowieso nicht.
Ich war dann noch in einem Supermarkt, wo ich damit gekämpft habe, ein Mineralwasser mit Kohlensäure zu finden, und wo ich die restlichen Forint auszugeben versucht habe. Dann bin ich nördlich von Balassagyarmat über die Grenze gefahren und durch ungarische Dörfer und Kleinstädte zurück nach Fiľakovo, vorbei auch an der Stadt Lučenec, die auf Ungarisch Losoncheißt (das sieht man ja noch ein), auf Deutsch Lizenz(sehr merkwürdig, unter einer Lizenz stelle ich mir etwas anderes vor…) und auf Lateinisch Lutetia(das geht zu weit!).
Und heute fahre ich zurück nach Westen, nach Pardubice, was bedeutet, dass auch der Blog allmählich zu Ende geht. Denn in Pardubice werde ich eher arbeiten als besichtigen, und auch im Archiv Gespräche führen. 
Feuerturm von Szécsény

Polnische Stickereien im Schluss

Urmenschen im Museum

Treppenhaus im Schloss

Stadthaus von Balassagyarmat

Denkmal der Civitas Fortissima

Palóczische Bauernhaus

Palóczisches Kruzifix
 

1 Kommentar

  • Schade, immer wenn es gerade so schön ist, ist es auch schon wieder vorbei. Aber vielleicht folgt mit dem Forschungssemester alsbald doch wieder eine Expedition und damit eine Fortsetzung des Blogs.

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