Am Vormittag dieses Tages habe ich mich um Punkt 10 Uhr am Schloss eingefunden, um unbedingt der erste Besucher sein zu können. Auf dem Weg bin ich aber noch einmal bei der Kirche vorbeigegangen, die heute der Pfingstgemeinde gehört, denn ich hatte im Internet über die Kirchen von Oels nachgelesen und hatte festgestellt, dass diese Kirche ursprünglich eine Synagoge war, die gegen Ende des 14. Jahrhunderts gebaut wurde. Vermutlich handelt es sich bei ihr um das älteste noch stehende Synagogengebäude Polens. Oels war im 15. Jh. offenbar ein wichtiges jüdisches Zentrum, denn um das Jahr 1500 herum gab es hier eine jüdische Druckerei, die dann später nach Krakau umzog. 1535 wurden die Juden aber vertrieben und aus dem Gebäude wurde eine evangelische Kirche. Diese muss irgendwann in neuerer Zeit an die Pfingstgemeinde übertragen worden sein, denn mancherorts wird die Kirche noch als evangelisch bezeichnet.
Nun aber zum Schloss: Ich war kurz vor 10 Uhr da, kaufte mir eine Eintrittskarte, wobei ich stolz bestritt, Rentner zu sein (ich bin es ja auch wirklich noch nicht), und bekam einen Audio-Guide, mit dem ich dann fast zwei Stunden durch das Schloss gewandert bin. Den Text des Audio-Guides fand ich gut gemacht, insbesondere weil er auf wertende Aussagen zur Geschichte verzichtete. D.h., es wurde genauso über die Zeit der Piasten wie über die der Württemberger und zuletzt der Hohenzollern berichtet, obwohl man über den letzten deutschen Kronprinzen (dem das Schloss bis 1945 gehörte) ja durchaus auch Kritisches sagen könnte. Leider gibt es den Audio-Guide nur auf Polnisch, was mir persönlich nichts ausmacht (alles war gut verständlich), was aber die Besichtigung durch ausländische Gäste erschweren dürfte. Ich habe nachgefragt und erfahren, dass eine englische Fassung geplant sei, aber erst wenn die Finanzen dafür da sind.
Die Besichtigung begann auf dem Schlosshof, auf dem alle Phasen des Baus gut sehen kann. Das meiste, was man sieht, wurde aber in den Jahren 1542–1561 erbaut, unter Johann von Münsterberg bzw. von Podiebrad (1509–1565). Die Münsterberger, bei denen es sich um die Nachfahren des böhmischen König Jiří von Poděbrad (1420–1471) handelte, des einzige hussitischen Königs, der in Böhmen geherrscht hat, hatten das Herzogtum Oels 1495 als erbliches Lehen erhalten, nachdem die vorherige Herrscherfamilie, die schlesischen Piasten, mit Konrad X. (1420–1492) ausgestorben waren (in dieser Familie hatten übrigens alle männlichen Mitglieder Konrad geheißen und wurden durchgezählt). Die Münsterberger starben 1647 in der männlichen Linie aus, 1649 erhielt Silvius Nimrod von Württemberg-Weiltingen, der mit der einzigen Tochter des letzten Münsterbergers verheiratet war, das Herzogtum, allerdings als Lehen des Kaisers und nicht mehr als unabhängigen Staat. Er stammte aus einer Nebenlinie der Württemberg und war ein Enkel von Herzog Friedrich I. (der von 1593 bis 1608 in Württemberg regierte). Auf Silvius Nimrod, der 1664 mit 41 Jahren starb, folgten noch fünf weitere Württemberger, der letzte war Karl Christian Erdmann, der 1794 starb und keinen männlichen Erben hatte. Seine einzige Tochter Friederike Friederike Sophie Charlotte Auguste (die noch vor ihm starb), war mit einem Welfen verheiratet, und so regierten von 1794 bis 1884 vier Welfen das Herzogtum. Danach fiel das Herzogtum an den Lehnherrn zurück – das war inzwischen (seit 1742) der König von Preußen bzw. deutsche Kaiser. Das Herzogtum wurde aufgelöst, die Grundherrschaft Oels fiel an den preußischen Kronprinzen, erst Wilhelm II. und dann an seinen Sohn Wilhelm (1882–1951), der das Schloss mit seiner Familie bis 1945 bewohnte.
Alle Besitzer des Schlosses haben ihre Spuren hinterlassen, am wenigsten noch die Piasten, deren Zeit ja vor dem Bau des heutigen Schlosses zu Ende ging und die eigentlich nur einen Turm vom Ende des 13. Jahrhunderts hinterlassen haben, der in das spätere Schloss integriert wurde, am meisten die Münsterberger, Württemberger und Hohenzollern, die als letzte im Schloss wohnten. Auf dem Schlosshof wird man vom Audio-Guide zu verschiedenen Stellen geführt, u.a. zu einem (ein bisschen verwitterten) Wappen der Württemberger und zu einem Medaillon, das den Erbauer des Schloss, Johann von Münsterberg mit seiner ersten Frau Christina Katharina von Schidlowitz zeigt. Vom Hof kommt man auch in eine Folterkammer (die auf keinem polnischen, tschechischen oder slovakischen Schloss fehlen darf), aber die wird vom Audio-Guide ausgeklammert…
Zurück in der Haupthalle sieht man dort einen vom Kronprinzen Wilhelm persönlich 1911 in Ceylon erlegten Elefanten und wird dann durch zahlreiche Räume geleitet, mit schönem Mobiliar (das aber nicht original ist, weil die Hohernzollern 1945 ihre Möbel mitgenommen haben), Stuckdecken u.a.m. Dann kommt man zum Laubengang im zweiten Stock des Schlosses, mit Blick auf den Hof, und zuletzt auf den Turm. Von dort aus hat man, bewacht von acht steineren Löwen, einen wunderschönen Blick auf die Stadt. Dann geht es wieder hinunter in den neueren Teil des Schlosses, den „Palast“, den die Hohenzollern bewohnt haben. Auch hier sieht man wieder schickes Mobiliar, aber auch Bilder der letzten Kronprinzessin Cecilie (1886–1954). Auf eine moderne Kapelle, in der ein Künstler eine Auswahl von Besitzer_innen des Schlosses dargestellt hat (offenbar hat der Platz nicht für alle gereicht), folgt dann auch das Schlafzimmer des Kronprinzenpaars, mit einem nachträglich eingebauten Fayence-Badezimmer.
Am Ausgang habe ich versucht, Postkarten zu kaufen, aber die gibt es schon lange nicht mehr, und so musste ich mich mit einem deutschsprachigen Schlossführer begnügen. Dann habe ich im Schlosscafé Tee getrunken und Kuchen gegessen und habe nach einem Restaurant für das Mittagessen gesucht. Dieses Mal habe ich (mit Hilfe von Google Maps) eine pierogiarnia am Stadtrand gefunden, also eine Gaststätte, wo man nur Piroggen essen kann. Auf dem Weg dorthin schaute ich noch einmal in der Schlosskirche nach, ob man die Württemberger Gruft besichtigen kann und fand heraus, dass es um 14:30 Uhr eine Führung durch die Kirche geben sollte. Sicherheitshalber rief ich auch unter einer dort angegebenen Telefonnummer an, ob die Führung auch wirklich stattfindet, dies wurde mir bestätigt. Und so konnte ich mich erstmal den Piroggen widmen, die auch wirklich gut waren.
Nach dem Mittagessen fand ich im kurz nach 14 Uhr an der Kirche ein und war erstmal der Einzige, der sie besichtigen wollte. Die Dame, die die Führung machen sollte, hat mir aber gleich ein Karte verkauft, und kurz vor 14:30 kam auch noch ein junges Pärchen, die ebenfalls die Kirche anschauen wollten. Wir waren also zu dritt und wurden zunächst auf die Empore geführt, wo die Führerin einen längeren Vortrag über die Geschichte der Kirche hielt. Und dieser Vortrag bemühte sich anders als der Audio-Guide im Schloss überhaupt nicht um Unparteilichkeit. Als erstes erfuhren wir, dass die Kirche zwar längere Zeit deutschen Adelshäuser gehört hätte, aber die hätten eher Dinge in Unordnung gebracht. Eigentlich sei das aber eine piastische und damit polnische Kirche, und das sei das Wesentliche (to nasza historia – ‘das ist unsere Geschichte’). Nach den Piasten seien aber leider Tschechen (Czesi) gekommen, und die seien ja bekanntlich evangelisch und hätten die Kirche verändert, beispielsweise durch den Einbau von Emporen. Die Führerin hat auch behauptet, Emporen gebe es fast nur in evangelischen Kirchen – dazu muss ich mal kundig. Mit den Tschechen waren die Herren von Münsterberg bzw. Podiebrad gemeint, die die Kirche im 16. Jahrhundert ausbauten, u.a. eben auch durch Emporen, auf denen die Herrscher während des Gottesdienstes saßen. Die Württemberger wurden nur kurz erwähnt, wurden aber natürlich auch negativ bewertet. Die Welfen kamen gar nicht vor, dafür wurde noch über die Hohenzollern geredet, die die Kirche 1905 renovieren lassen wollten, wobei dann aber ein Seitenschiff einstürzte. Sie hat zwar nicht behauptet, dass die Hohenzollern daran direkt schuld waren, sprach aber länger über die Unfähigkeit des Architekten und einen auf den Vorfall folgenden Prozess.
Anschließend besichtigen wir das Kirchenschiff und schauten uns die reich verzierte Orgel und die Gemälde an der Empore an. Auch hier gab es wieder theologische Belehrungen, nämlich dass die biblischen Szenen eine biblia pauperum gewesen seien, weil nämlich die Evangelischen wirklich die Bibel lesen, während den Katholiken immer nur der Priester erzählt. Auf wundersame Weise hat sich kurzzeitig die antiprotestantische Polemik in eine antikatholische verwandelt… Anschließend gingen wir auf eine andere Empore und von dieser in die sog. Kettenbibliothek, eine zur Kirche gehörenden Bibliothek aus dem 16. Jahrhundert, in der die Bücher festgekettet sind, damit niemand sie stiehlt. Die meisten Bücher stehen im Regal, eines lag auf einem Pult und war zur Demonstration aufgeschlagen. Die Führerin dozierte, die Bücher seien in altertümlichen Deutsch geschrieben, das fast niemand lesen könne. Da musste ich dann auch protestieren und sagte, ich könne den Text lesen. Worauf sie mich einlud, etwas vorzulesen und zu übersetzen. Das war aber schwierig, denn aufgeschlagen waren Luthers Tischreden und eine Rede von ihm über die Epikuräer. Ob das wirklich ein theologischer Text ist, sei dahingestellt, aber ich war jedenfalls nicht in der Lage, ihn aus dem Stegreif ins Polnische zu übersetzen. Dann zeigte sie uns noch einen polnischen Druck aus dem 16. Jahrhundert und forderte die jungen Leute auf, ihn vorzulesen – was diese natürlich nicht konnten. Als ich dann den Text fließend vorlas, waren alle ziemlich befremdet und fragten misstrauisch, woher ich das kann. Mit der Auskunft, dass ich Polonist sei, waren sie aber wenigstens zufrieden.
Dann gingen wir wieder ins Kirchenschiff und erfuhren endlich etwas über die Krypta bzw. die Krypten. Es gibt nämlich zwei. Die eine ist die der Podiebrads (d.h. der Tschechen), sie befindet sich vorne im Altarraum, und der Eingang befindet sich hinter (oder unter?) dem prachtvollen Grabstein von Georg II. von Münsterberg (1512–1553). Diese Gruft sei aber nicht begehbar, weil sie völlig mit Särgen vollgestellt sei, und auch die Führerin war selbst noch nicht in ihr. Die zweite Gruft, nämlich die der Württemberger, befindet sich in einer Seitenkapelle rechts vom Altar. Bzw. die eigentliche Gruft liegt unter der Kapelle und oben befindet sich ein großes Grabmal. Genau diese Gruft wurde aber in den letzten Jahren mit Erlaubnis der Kirche genau untersucht, und einige Särge wurden nach oben gebracht, so der von Silvius Nimrod I. († 1664) und der seiner Frau Elisabeth Marie, die ihn um 22 Jahre überlebte. Die Särge wurden geöffnet und man stellte zunächst fest, dass die Überreste von Silvius Nimrod stark beschädigt sind. Er trug auch keinen Schmuck, nur sein Gebetbuch lag mit ihm im Sarg. Zunächst lag der Verdacht nahe, dass das Grab ausgeraubt wurde, aber inzwischen vermutet man eher, dass die einfache Bestattung bewusst gewählt wurde. Bei der Öffnung des Sargs seiner Frau stellte man fest, dass sie in einem prächtigen Kleid mit Schmuck begraben wurde, u.a. mit zwei Ringen des Totenkopf-Ordens, den ihr Mann 1652 gestiftet hatte. Einer der Ringe war ihrer, der andere seiner.
Die Gruft konnte bis vor kurzem begangen werden, das ist aber nicht mehr möglich. Wir sahen aber die Treppe, die hinunterführt, und die unten verbliebenen Särge. Der Sarg von Silvius Nimrod I. ist frisch renoviert und steht noch, mit leuchtender farbiger Bemalung, so als ob er vor kurzem begraben worden sei. Das Grabmal, das oben in der Gruft steht (und das ich leider nicht fotografiert habe), gehört Johann I. von Münsterberg und seiner Frau (obwohl der vermutlich in der anderen Gruft begraben ist).
Jetzt neigte sich die Besichtigung dem Ende zu, aber die Führerin musste noch schnell gegen Tschechen und Deutsche ausholen. Sie sagte nämlich, die Piasten, die bis Ende des 15. Jahrhunderts in Oels regiert hätten, seien wahrscheinlich auch in der Kirche begraben worden, man wisse nur nicht, wo. Vermutlich hätten die späteren Besitzer der Kirche sie verschwinden lassen, man hoffe aber, sie irgendwann noch zu finden.
Zum Abschied sagte ich der Führerin, ich sei aus Württemberg, aber sie hat das gar nicht richtig verstanden. Vielleicht weiß sie gar nicht, dass es heute noch ein Land dieses Namens gibt…
Damit war ein langer und interessanter Tag abgeschlossen. Abends habe ich in einer Pizzeria außerhalb der Altstadt gut gespeist. Und am nächsten Tag bin ich dann nach Osten weitergefahren, konkret nach Nowy Sącz.