Am Sonntag machten wir uns nach dem Frühstück auf dem Weg zu unserem ersten Ausflug. Das Fahrvergnügen war leider ein wenig dadurch getrübt, dass an meinem Auto „etwas klapperte“, und meine Nichten stellten schnell fest, dass eine Abdeckung herunterhing und von Zeit zu Zeit auf den Boden aufschlug. Zunächst habe ich mich aber mit meiner Meinung, dass man das Auto trotzdem benutzen könne, durchgesetzt, und so fuhren wir zur Dorfkirche von Sorkwity/Sorquitten. Das ist eine hübsche kleine Barockkirche, die einer protestantischen Gemeinde gehört, und wir trafen gegen Ende des Gottesdienstes ein, den ein Pfarrer namens Krzysztof Mutschmann abhielt. Teilnehmen konnten wir nicht mehr, aber wir hörten noch bekannte Kirchenliedermelodien – dann strömten die polnischen Gläubigen aus der Kirche, aber auch eine deutsche Jugendgruppe. Und wir genossen den „Bauernbarock“ mit vielen Statuen in dörflichem Stil.
Nachdem sich zufällig des Wegs kommende polnischen Experten zu meinem Auto geäußert hatten, wurde ich von meiner Familie gezwungen, die nächste Tankstelle anzufahren. Dort tat ein dicklicher junger Mann Dienst, den ich nur mit einiger Mühe bewegen konnte, sich den Schaden anzuschauen, der aber versicherte, es gehe nur um eine Abdeckung, die notfalls auch abreißen könne. Und so durfte ich dann weiterfahren.
Weiter ging es dann nach Mikołajki/Nikolaiken, in das Zentrum der masurischen Seenplatte. Die Stadt war voll von Tourist_innen, und die Parkplatzsuche war alles andere als einfach, aber sie gelang. Wir haben uns zunächst in einer Eisdiele von den Strapazen untersucht und haben dann die Stadt in Augenschein genommen, die wirklich malerisch am Ufer des Spirdingsees (Jezioro Śniardwy) liegt. Nach einem ausgiebigen Spaziergang durch das Zentrum und über den Hafenkai haben wir am Hafen vorzüglich zu Mittag gegessen und sind dann weitergefahren, nach Wojnowo.
Von einem Besuch in Wojnowo/Eckertsdorf träume ich seit vielen Jahren, denn das ist bzw. war das Zentrum der russischen Altgläubigen, die sich hier im 19. Jahrhundert angesiedelt haben. Die Nachrichten über sie im Internet sind aber spärlich, und es gibt auch nicht so viel wissenschaftliche Literatur – deren Lektüre manchmal auch schon etwas zurückliegt. Ich wusste jedenfalls, dass es dort ein altgläubiges Nonnenkloster gab, das 2005 nach dem Tod der letzten Nonne in ein Museum umgewandelt wurde. Dieses Kloster haben wir gesucht und fand sehr schnell ein Tor, hinter dem sich eine orthodoxe Kirche, ein Friedhof und ein Kloster verbargen. Nur waren wir zu früh da, um 14:40, und die Kirche sollte erst um 15 Uhr geöffnet werden.
Während wir noch unschlüssig waren, was wir tun sollten, kam eine Nonne des Wegs, die einen Hund ausführte. Das war nun doch etwas überraschend, insbesondere weil die Dame auch recht jung war… Leicht zögernd, aber von meiner Verwandtschaft gedrängt, habe ich sie angesprochen und bin dann, weil ich das Polnisch etwas merkwürdig fand, gleich ins Russische gewechselt. Die Nonne war davon durchaus angetan und hat uns dann erklärt, dass es sich hier um ein normales orthodoxes Kloster handle, während sich das ehemalige Altgläubigenkloster anderthalb Kilometer weiter befinde.
Das Kloster haben wir schnell gefunden, der Zugang war aber etwas verfremdet, weil uns zunächst Tourist_innen in Badesachen entgegenkamen. Das ließ sich aber schnell erklären – das Kloster liegt an einem kleinen See. Es besteht aus mehreren Gebäuden, in einem ist ein kleines Café, in einem anderen ein Museum, in das auch die Kirche integriert ist. Die Kirche ist noch im alten Zustand, mit Ikonostase, und ein wirklich beeindruckender Ort. Ich werde auf jeden Fall noch einmal hinfahren und mir alles in Ruhe anschauen.
Inzwischen habe ich auch noch einiges über die Geschichte der Altgläubigen in Wojnowo gelesen. Sie ist so verwirrend, dass ich nur die wichtigsten Punkte hier erwähnen kann. Angesiedelt haben sich hier um das Jahr 1830 sog. Philipponen, eine besonders radikale Richtung, die u.a. auch die Ehe für Sünde hielt und Eheleute von den Sakramenten ausschloss. Die Philipponen gründeten neben vielen kleinen Siedlungen ein Kloster, dessen Leitung um 1850 ein Mönch mit dem wunderschönen Namen Paul der Preuße (Paweł Pruski) übernahm, ein feuriger Verfechter seines Glaubens und produktiver religiöser Schriftsteller. In den sechziger Jahren begann er seine Ansichten zu ändern, vertrat dann die Richtung, dass die Ehe zulässig sei und von der Kirche gesegnet werden müsse – und verließ 1867 Wojnowo, um dann im folgenden Jahr mit vielen Anhänger_innen in den Schoß der orthodoxen Kirche zurückzukehren. 1896 ist er als Abt (!) in Moskau gestorben. Auf diese Spaltung der Altgläubigen ist die Existenz der beiden Klöster zurückzuführen, und eigentlich gab es im 20. Jahrhundert auch noch zwei Gruppen von Altgläubigen nebeneinander, nämlich die Ehegegner_innen (um das Kloster) und die Ehebefürworter_innen, die eine eigene Gemeinde hatten.
Nun aber zurück in die Gegenwart! Auch nach dem Besuch des Klosters wurde das Leben nicht langweiliger. Meine Schwester und ich brachten meine Nichten zu einem Reiterhof und fuhren dann in die nahegelegene Kleinstadt Barczewo/Wartenburg, um Geld abzuheben und einzukaufen, in einem Supermarkt namens Lewiatan (nomen est omen), der am Sonntagabend geöffnet war. Kurz nach der Abfahrt vermisste ich meinen Geldbeutel, wir fuhren zurück, die Damen im Supermarkt erinnerten sich noch daran, dass ich bezahlt hatte, aber der Geldbeutel war nicht aufzufinden. Und zwei leicht verdächtige Subjekte, die in einem nahegelegenen Park saßen, beteuerten auch, nichts gesehen zu haben. Also ging es wieder zum Reiterhof, wo ich übers Handy meine Kreditkarte sperrte (ein bleibendes Erlebnis), und in unsere Unterkunft.
Etwas später fuhr ich noch einmal allein nach Barczewo, um den Diebstahl bei der Polizei zu melden – und das war dann wirklich ein nettes Erlebnis. Ich erklärte nämlich in dem eloquentesten Polnisch, dessen ich fähig bin, die Geschichte, worauf der Polizist leicht verwirrt „Name“ zu mir sagte. Als ich nicht gleich reagierte, folgte die Frage „Name Doktor Berger?“ Und so stellte sich dann heraus, dass Kinder den Geldbeutel auf dem Friedhof gefunden und bei der Polizei abgegeben hatten, ohne Geld, aber mit allen Ausweisen und Karten. Und der arme Polizist hatte sich wahrscheinlich so darauf gefreut, seine Sprachkenntnisse ausprobieren zu können… Ich habe noch einmal Geld abgehoben (aber weniger…) und bin mit Geldbeutel und immer noch klapperndem Auto nach Barczewko zurückgefahren.
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Die Kirche von Sorkwity |
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Altar der Kirche von Sorkwity |
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Kanzel der Kirche von Sorkwity |
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Der Hafen von Mikołajki |
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Rathaus von Mikołajki |
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Orthodoxe Kirche von Wojnowo |
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Altgläubigenkloster von Wojnowo |
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Ikonostase im Altgläubigenkloster von Wojnowo |
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Orthodoxer Friedhof von Wojnowo |
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Barczewo |
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Nach dem Durchlesen ist mir jetzt noch ganz schwindlig von all den Erlebnissen… dürfte offenbar momentan in der Luft liegen. °(ツ)/° Hauptsache ist alles halbwegs gut ausgegangen!