An diesem Tag reisten die meisten Gäste aus Barczewko ab. Ich habe mich von meiner Schwester und ihren Töchtern verabschiedet und bin dann zunächst wieder nach Wojnowo gefahren, ins ehemalige Altgläubigenkloster. Ich wollte noch einmal in Ruhe das Museum besuchen, den Friedhof aufsuchen, den wir beim ersten Besuch übersehen hatten, und dann auch noch das Gebetshaus anschauen, dass sich außerhalb des Klosters im Ort befindet. Von diesem Gebetshaus, das den schönen Namen molenna trägt (das ist wohl eine polonisierte oder eine dialektale Form, denn schriftsprachlich russisch müsste es molennaja heißen), hatte ich erst später gelesen. Hier trafen sich die gemäßigten Altgläubigen, die zwar keinen Popen, aber einen Gemeindevorsteher (nastavnik) hatten, während im Kloster am See die radikalen Philipponen (bzw. eher Philipponinnen) siedelten und im anderen Kloster diejenigen, die zur Orthodoxie zurückgekehrt sind (die sog. edinovercy).
Dabei verliefen die Grenzen zwischen den zwei Gruppen von Altgläubigen wohl eher fließend. Im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert, als noch viele Altgläubige in Wojnowo wohnten, mag es hoch hergegangen sein, heute lebt fast niemand mehr in der Gegend von Wojnowo, sondern die meisten sind nach Deutschland emigriert, und zwar offenbar vor allem nach Hamburg! Dazu gibt es einen sehr schönen Artikel von Anna Zielińska, den es auch im Internet gibt und aus dem man erfährt, dass die Altgläubigen in Deutschland fast kein Gemeindeleben haben. Rituelle Handlungen wie Hochzeit und Begräbnis lassen sie in anderen Religionsgemeinschaften vollziehen (bei den Protestanten, Katholiken oder Orthodoxen), gehen dort auch teilweise in die Kirche und betrachten gleichzeitig weiterhin Wojnowo als ihr spirituelles Zentrum. Es gibt dann sogar solche merkwürdigen Dinge wie die, dass jemand in Hamburg begraben wird und in Wojnowo eine Trauerfeier stattfindet.
In Wojnowo angekommen war ich nur kurz im Museum, denn wie sich zeigte, hatte ich doch schon alles gesehen – das Museum ist halt sehr klein. Dann habe ich mich in dem kleinen Café nach dem Friedhof erkundigt. Dieser liegt unterhalb des Klosters am See, ist sehr klein und dicht belegt. Auf den meisten Gräbern stehen Holzkreuze mit nur zum Teil lesbarer kyrillischer Beschriftung, dabei geht es um orthodoxe Symbole – Namen fehlen fast immer. Wenn ich es richtig sehe, standen nur auf den neuesten Gräbern Namen, dort, wo die letzten Bewohnerinnen des Klosters begraben sind. Und mitten drin ist ein steinernes Prachtgrab der (ursprünglich aus Wilna stammenden) Familie Ludwikowski, der das Kloster heute gehört und die hier das Museum, das Café und „agroturystyka“ betreibt. Der Terminus bezeichnet eigentlich „Ferien auf dem Bauernhof“, aber hier geht es um einen Campingplatz samt Schwimmbad, was ich bei aller Liebe doch etwas problematisch finde. Ich konnte mich auch nicht entschließen, hier ins Wasser zu steigen. Die Gäste scheinen überwiegend Deutsche zu sein, aber auf dem Parkplatz stand kein Hamburger Auto. Wenn ich ein solches gesehen hätte, hätte ich dessen Insassen angesprochen.
Ich saß dann lange auf der Veranda des Cafés, dachte über den Lauf der Welt nach und schrieb meinen Blog. Der junge Mann, der im Café arbeitete, erklärte mir dann noch, wo die Molenna ist, und ich verabschiedete mich. Das Gebetshaus steht mitten im Ort, ist groß und sieht wie eine Kirche aus, es ist aber geschlossen und nicht zugänglich. Verwendet wird es wohl nur noch bei besonderen Anlässen.
Gegen 14 Uhr machte ich auf die weitere Reise nach Osten, mein Ziel war das Gebiet um Suwałki, bzw. wie man so schön auf Polnisch sagen kann, die Suwałszczyzna. Und es ist an der Zeit zu erklären, warum ich dorthin gefahren bin. Der erste Grund war schlicht der, dass die Altgläubigen in Masuren in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts aus der Suwałszczyzna zugewandert sind. Dieses Gebiet war bis 1795 polnisch und gehörte dann kurze Zeit (bis 1807) zu Preußen, dann zum Großherzogtum Warschau und schließlich ab 1815 zu Russland. Das bedeutete, dass sich die Lage für die Altgläubigen verschlechterte und sie neue Siedlungsgebiete suchten. Und wie es heißt, soll es auch in der Suwałszczyzna noch Altgläubige geben, die anders als die masurischen nicht germanisiert wurden und z.T. noch Russisch sprechen. Der zweite Grund meiner Reise war der, dass mich Aleksandra Konarzewska angeschrieben hatte, um mich auf Krasnogruda aufmerksam zu machen, das ehemalige Landgut der Familie mütterlicherseits von Czesław Miłosz, das heute ein internationales Begegnungszentrum ist, geleitet von dem polnischen Schriftsteller und Aktivisten Krzysztof Czyżewski. Und der dritte Grund bestand schlicht darin, dass man in diese Gegend im äußersten Nordosten und an der Grenze zu Litauen nicht so oft kommt. Von Tübingen ist das leider sehr weit weg…
Dabei ist die Suwałszczyzna ein interessantes Gebiet. Es wurde erst relativ spät besiedelt (ab dem 16. Jahrhundert), vorher waren hier große Wälder, die das polnische vom litauischen Siedlungsgebiet trennten. Eine wichtige Rolle spielten hier große Klöster wie das Dominikanerkloster in Sejny (gegründet 1602) und das Kamaldulenserkloster in Wigry (gegründet 1667). Sejny ist auch sonst interessant, es war im 18. und 19. Jahrhundert ein wichtiges jüdisches Zentrum. Die Grenzlage zu Litauen bringt mit sich, dass sich hier die Bevölkerung mischte, und nach dem Ersten Weltkrieg wäre das Gebiet auch fast an Litauen gefallen, wenn es nicht 1919/20 zum Aufstand von Sejny gekommen wäre, einem der vielen Aufstände jener Zeit. Bis heute gibt es um Sejny eine litauische Minderheit, von der man aber nicht viel merkt. Auffälliger ist, dass es überall litauisches Essen gibt (dazu später mehr).
Zurück zu meiner Reise. Von Wojnowo bin ich erst noch in ein ehemals von Altgläubigen besiedeltes Dorf namens Onufryjewo gefahren, wo es aber nichts zu sehen gibt, und habe dann in Pisz an der Pisa zu Mittag gegessen. Dieses kleine Städtchen mit einem Namen, der sonderbare Assoziationen auslösen könnte, hieß in der deutschen Zeit Johannisburg (mit i!). Hier gab es auch mal eine Druckerei der Altgläubigen, heute ist die Stadt eher verschlafen und baulich nicht sehr interessant. Was aber vor allem daran liegt, dass sie bei Kriegsende zu 70% zerstört wurde.
Gegen 17 Uhr war ich in Suwałki (das auf Deutsch anscheinend Sudauen heißt, aber diesen komischen Namen, den ich noch nie gehört habe, werde ich hier nicht verwenden) und wollte nach einem Hotel suchen. Das erwies sich aber als schwierig, denn ich habe nicht einmal die Innenstadt gefunden, wegen Bauarbeiten gab es große Umleitungen. Kurz entschlossen bin ich gleich nach Sejny weitergefahren, wo es aber nur ein Hotel gibt, in dem eine Hochzeit stattfand (und die sah man gleich, weil die Gäste fein gekleidet vor dem Hotel standen). Da habe ich lieber nicht gefragt, bin noch ein bisschen in Richtung Litauen gefahren, wo aber alles sehr einsam ist und mir die Absteigen am Wegesrand (auf Polnisch heißt so etwas zajazd) nicht zusagten. Also ging es zurück nach Suwałki. Unterwegs sah ich dann ein Hotel, das passabel aussah, bin aber erstmal weitergefahren, um in Suwałki zu suchen. Dort fand ich dann auch ein erstes Hotel, in dem aber angeblich auch eine Hochzeit stattfinden sollte (zu sehen war nichts), und ein zweites, wo ich erfuhr, wegen eines Jahrmarkts sei die ganze Stadt ausgebucht und es gebe nur noch Zimmer in einem großen Hotel namens Szyszko. Dieses Hotel habe ich dann zwar von der Straße aus gesehen, es gelang mir aber nicht, es anzufahren… Und so landete ich letztlich doch in dem Hotel zwischen Suwałki und Sejny, dem Holiday-Hotel (wenigstens nicht Holiday Inn), wo zwar auch eine Hochzeit stattfand, aber noch Zimmer frei waren. Und dort bin ich abgestiegen und war auch zufrieden. Die Hochzeitsfeier war weniger zu hören als der Straßenlärm, und auch der hielt sich in Grenzen.
Eingangstor des Altgläubigenklosters von Wojnowo
Eingang zum Altgläubigenfriedhof
Altgläubigengräber ohne Namen
Prachtgrab der Familie Ludwikowski
Blick von der Terrasse des Cafés auf den See
Altgläubige Molenna in Wojnowo
Ortsschild von Onufryjewo, wo leider auch nicht mehr zu sehen ist
Rathaus von Pisz an der Pisa
Noch einmal das Rathaus
Ehrendenkmal für alle Kämpfe, die Polen im 20. Jahrhundert ausgefochten hat…