Tilman Bergers Blog

27. August 2022: Ausflug ins Heiligkreuzgebirge

Am Samstag habe ich einen Ausflug in das Heiligkreuzgebirge (Góry świętokrzyskie) gemacht, das südlich von Kielce und nördlich von Krakau liegt. Es handelt sich um ein Mittelgebirge mit drei Gipfeln, von denen der höchste 612 m über dem Meer liegt, entscheidend ist aber der zweithöchste Gipfel, der heute Łysa Góra (d.h. Kahler Berg) heißt und auf dem seit dem Jahr 1006 ein Kloster stand bzw. steht, das von großer historischer Bedeutung ist. Zu diesem Kloster zieht es mich schon seit langem, denn von dort stammt der älteste längere polnische Text, die sog. Kazania świętokrzyskie. Das ist eine Handschrift, die in die Mitte des 14. Jahrhunderts datiert wird und die der große polnische Sprachwissenschaftler Aleksander Brückner (später Professor an der Berliner Universität) 1890 in Petersburg entdeckt hat, und zwar in Form von Streifen, die im Einband eines neueren Kodex verwendet worden waren. Man kann sich da zwar fragen, was das für Zeiten waren, wo ein Forscher noch die Leitung der Bibliothek bitten konnte, ein Buch zu zerschneiden, weil dort interessante Streifen eingeklebt sind, aber jedenfalls wurde auf diese Weise der älteste (fortlaufende) polnische Text gewonnen, den zu lesen immer wieder ein Vergnügen ist. Er enthält beispielsweise noch Archaismen wie Aorist und Imperfekt, die es in späteren Denkmälern nicht mehr gibt, und die Orthografie hat auch ihre Reize. Jedenfalls ist diese Handschrift genauso wie der schwebende Hl. Wojciech fester Bestandteil meiner Veranstaltungen zur westslavischen Sprachgeschichte.

Dass die Handschrift ursprünglich aus dem Heiligkreuzkloster stammt, ist eine Hypothese Brückners, die viel diskutiert wurde (auch zu seinen Lebzeiten), aber der Name der Handschrift hat sich durchgesetzt. Und daher weiß ich von dem Kloster und will es schon lange besuchen. Beim ersten Versuch vor ein paar Jahren stellte ich allerdings fest, dass man nicht mit dem Auto zum Kloster fahren kann, sondern dass man vom Tal aus zu Fuß laufen muss. Das finde ich eigentlich ja gut, nur hatte ich damals nicht die Zeit, und diesmal wollte ich es in aller Ruhe angehen.

Bevor ich meine Erlebnisse schildere, will ich noch kurz sagen, welche Gebäude es im Laufe der Zeit auf dem Berg gegeben hat. Da ist zunächst das 1006 gegründete Benediktinerkloster zum Heiligen Kreuz, das deswegen so heißt, weil 1306 der König Władysław Łokietek dem Kloster ein paar Splitter vom Kreuz auf Golgatha geschenkt hat, die aus dem Besitz des Hl. Emmerich stammen sollen (eines ungarischen Königssohns). Vor dem Kloster gab es auf dem Berg ein Altslawische Kultstätte, das Kloster selbst hatte eine lange und ereignisreiche Geschichte, die damit endete, dass es 1819 geschlossen wurde, unter der russischen Herrschaft. Zeitweise war in dem Gebäude eine Anstalt für Priester, die sich etwas zuschulden kommen ließen, und ab 1883 befand sich dort ein Gefängnis, das erst die zaristischen Besatzer nutzten, danach die Polen (ab 1919) und zuletzt die deutschen Besatzer. Die Benediktiner hatten nach 1919 versucht, das Kloster zurückzuerhalten, was aber nicht gelungen ist. 1937 gründeten dann die „Oblaten der Unbefleckten Jungfrau Maria“ ein neues Kloster, das heute noch betrieben ist. Dieser Orden mit einem leicht missverständlichen Namen bildet offenbar Missionare für die ganze Welt aus.

Nun aber zu meinem Ausflug: Im Internet hatte ich mich informiert, dass man den Berg von zwei Dörfern aus besteigen kann, entweder von Huta Szklana aus, da sind es 2 km, oder von Nowa Słupia aus, da ist der Weg etwas weiter. Ich entschied mich für die erste Variante und fuhr nach Huta Szklana, wo mich nicht nur ein großer Parkplatz erwartete, sondern auch eine mittelalterliche Schenke und ein Ökopark (der aber erst 2023 eröffnet werden soll) und ein ganz Fuhrpark von Fahrzeugen, die bereit stehen, die Besucher_innen auf den Berg hinaufzufahren. Da ich relativ früh am Morgen da war (kurz nach 9 Uhr), stürzten sich gleich mehrere auf mich und wollten mich in ihr Fahrzeug locken. Ich habe aber widerstanden und bin zu Fuß den Berg hinaufgelaufen, was gar nicht sehr lange dauerte, auf einem Asphaltsträßchen, das durch einen Wald führte (daher war es angenehm kühl). Ich war offenbar der Einzige, der um diese Tageszeit zu Fuß hinaufstieg, gelegentlich wurde ich von verschiedenen Fahrzeugen (einschließlich eines Reisebusses!) überholt. Begegnet ist mir auch fast niemand, erst als ich an der ersten Station angelangt war, wo man Eintrittskarten kaufen konnte, sah ich wieder andere Menschen.

Ich wunderte mich etwas, wofür wohl die Eintrittskarten bestimmt sind, und ich wunderte mich noch mehr, als ich dann erfuhr, dass man dafür Eintritt bezahlt, dass man von einer Aussichtsplattform Geröllhalden (gołoborze) besichtigen kann. Aber diese Geröllhalden sind offenbar etwas Besonderes, also habe ich eine Eintrittskarte gekauft (die auch noch für andere Sehenswürdigkeiten gelten sollte), bin auf die Aussichtsplattform gestiegen und habe die Geröllhalden betrachtet, die mich wirklich nicht so besonders beeindruckt haben. Trotzdem war ich froh, den kleinen Umweg gemacht zu haben, denn auf dem Rückkehr entdeckte ich immer die altslawische Kultstätte bzw. was von ihr noch übrig ist. Da wüsste ich ja schon gerne, ob die paar Steine, die da liegen, je seriös von Archäologen untersucht wurden…

Dann ging es weiter, bald nach den Geröllhalden kamen Parkplätze und dann ein Museum, das sich offenbar im früheren Gefängnis befindet. Ich ging hinein, musste nicht noch einmal Eintritt bezahlen und wurde von einer Ausstellung zur Natur und zur Vorgeschichte überrascht, mit wunderschönen Nachbildungen früher Bewohner. Immerhin sagt man heute offen, dass die ersten Bewohner noch keine Slawen waren, das ist ein großer Fortschritt. – Ich wunderte mich aber, dass man das Gefängnis nicht anschauen kann, und fragte an der Kasse. Da wurde mir dann der Eingang gezeigt und ich kam in einen relativ schaurigen Keller mit Zellen. In einer davon ist sogar Stepan Bandera eingesessen (1937/38). Als ich wieder herauskam, sprach mich ein anderer Besucher an, der mit einem kleinen Jungen unterwegs war. Er identifizierte mich gleich als Deutschen und sprach mit mir Deutsch – er lebt schon seit 20 Jahren in Deutschland. Aber seinem Sohn (oder Enkel) wollte er das Gefängnis nicht zumuten und meinte, das würden sie bald später anschauen, wenn der Junge größer ist.

Als ich aus dem Museum herauskam, sah ich schon deutlich mehr Leute, die unterwegs waren, und etwas weiter oben am Hang war dann die Kirche und links von ihr das heutige Kloster. Vor dem saß ein älterer Mönch in weißem Gewand, der offenbar Leute zur Führung anwerben sollte. Er war aber nicht sehr aufdringlich, und ich habe mich erstmal zur Klosterpforte gegeben, wo ich gelesen habe, dass die Führung anderthalb Stunden dauert, mit integriertem Gottesdienst. Da bin ich erschrocken, habe mir erstmal einen Sprudel gekauft und habe ihn inmitten der Pilgerinnen und Pilger getrunken, um mich dann mit einer Gruppe in die Kirche einzuschleichen. Die Kirche ist schlicht und vermutlich viele Male modernisiert – da wurde mir erst klar, dass sich das aktuelle Kloster doch teilweise in Räumen des alten Klosters befindet und dass die Kirche offenkundig immer an der gleichen Stelle gewesen ist. Dies wurde dann dadurch bestätigt, dass auch die Heiligkreuzreliquien immer noch da sind, in einer Seitenkapelle und mit einem kurzen Bericht über eine Untersuchung der Holzsplitter, bei der sich herausgestellt haben soll, dass es Holz einer nahöstlicher Fichte geht. Die Erkenntnis, dass die Reliquien immer noch auf dem Berg sind, hat mich sehr beeindruckt, u.a. auch deswegen, weil davon nirgends groß die Rede ist.

Sehr lange hat die Besichtigung nicht in Anspruch genommen, denn ins Kloster bin ich nun doch nicht eingedrungen. Dafür schaute ich mir noch eine weitere Sehenswürdigkeit an, bei der man getrennten Eintritt bezahlen muss (aber nur 2 Złoty). In einer Gruft, die von außen zu betreten ist, kann man nämlich die Mumie von Jeremi Wiśniowiecki (1612–1651) besichtigen, einem polnischen Heerführer ruthenischer Abstammung, der sich insbesondere im Krieg gegen die Kosaken verdient gemacht hat. Sein Sohn Michael Korybut Wiśniowiecki wurde 1669 zum polnischen König gewählt, regierte aber nur vier Jahre (und ist im Wawel begraben). Die Mumie habe ich aus Gründen der Pietät nicht fotografiert, sondern nur den Sarg – und eine Karte Polens im 17. und 18. Jahrhundert, über deren Wahrheitsgehalt man lange streiten könnte.

Als ich mich auf den Rückweg machte, stellte ich fest, dass der Weg nach Nowa Słupia viel schöner ist als der, auf dem ich gekommen war – es handelt sich offenbar um den ursprünglichen Zugang zum Kloster, mit schönen Alleen (und keiner Asphaltstraße). Aber diesen Weg konnte ich nicht nutzen, weil ich ja zu meinem Auto zurück musste… – Am Fuß des Bergs angelangt aß ich zunächst in der mittelalterlichen Schenke zu Mittag. Ich hatte zwar befürchtet, dass es dort nichts Vegetarisches gibt, aber es gab Brot mit einem veganen Aufstrich, der sogar ziemlich gut schmeckte.

Damit war der Tag aber noch nicht zu Ende. Ich habe nämlich auch noch ein Bergwerk aus dem Neolithikum besichtigt. Es heißt „Krzemionki“, und dort wurde in der Zeit zwischen 3900 und 1600 v.Chr. Feuerstein abgebaut. Dieses Bergwerk wurde 1922 von Jan Samsonowicz (dem Vater des bekannten Historikers) entdeckt, dem Mulden im Gelände aufgefallen waren. Und bei Grabungen fand man unterirdische Schächte, die bis zu 9 m unter der Erde liegen, mit langen Gängen. 2019 wurde das Bergwerk zum UNECSCO-Kulturerbe erklärt.

Man kann das Bergwerk nur mit einer Führerin oder einem Führer besuchen. Auf die Führerin mussten wir länger warten und waren so lange in einem Museum, wo wieder – wie im Museum auf dem Berg – schöne Bilder aus der Vorzeit gezeigt wurden, nur wahrscheinlich nach neuerem Forschungsstand. Mir persönlich hat der greise neolithische Professor, der nach getaner Arbeit ausruht, am besten gefallen…

Als die Führerin kam, sind wir eine längere Strecke im Wald gelaufen, wo uns immer wieder Spuren des Bergwerks gezeigt wurden. Dann kamen wir zu einer neuen Anlage, wo man 11 m in die Tiefe steigt und dann bei 8° durch unterirdische Gänge läuft. Das war alles sehr beeindruckend und wurde gut erklärt, berichten kann ich freilich nicht so besonders viel. Bemerkenswert fand ich, dass in der Gegend immer noch Kalkstein abgebaut wird, aber kein Feuerstein mehr, und auch, dass man das Dorf lokalisieren kann, wo die Bergleute wohnten – es ist 8 km vom Bergwerk entfernt, leider aber noch nicht ausgegraben, weil sich der Besitzer des Grundstücks dagegen wehrt.

Nach 16 Uhr bin ich nach Kielce zurückgefahren und habe dort noch ein netten Abend in einer vollen Gaststätte hinter mich gebracht, weil ich nicht jeden Tag im Hotel essen wollte.

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